Freitag, 28. Oktober 2011

Oče naš

Wir sitzen in einem alten Saal über der Stadt. Der Stadt Belgrad, von der ich nichts wusste und von der ich keine Vorstellung hatte, außer der, dass Wilfried irgendetwas Tiefes mit ihr verbindet. An der Decke ziehen sich lange Risse, quer über den Saal. Es ist heiß, die Luft steht und keine Maus fände hier noch Platz. Wir Deutschen empfinden die Enge und Stickigkeit als unangenehm. Die Serben finden nichts dabei. Sie plaudern und lachen unbekümmert. 




Wie wird das gehen, diese beiden Temperamente zu einem Klang zusammenzubringen? Alle warten auf Sascha, den anderen Chorleiter, den die Serben ehrfürchtig "Maestro" nennen. Dann kommt er. In einem leuchtend grünen Shirt und schwarzen Hosen mit Hosenträgern. Er ist jung, vielleicht jünger als ich und unerbittlich und witzig und vom ungebändigten Temperament eines jungen Büffels. Unser "Meister" wirkt dagegen sehr geordnet, obwohl er es vielleicht nur von außen ist. In ihm tobt ein Sturm darüber, ob dieses Experiment gelingen wird. Sascha begrüßt unseren Chor und ein junger Bass mit Bart übersetzt, überraschend schnell und in bestimmtem Ton ins Deutsche. Vor mir im Sopran sitzt eine Brünette mit hoch geklemmtem Haar und neugierigem Blick. Ihre Augen wandern durch die Reihen. Weiter links eine blonde Dame, schon älter, aber mit jugendlich verwirbeltem Haar, die sich als Frau Müller vorstellt. 
Der Maestro bitte um Ruhe. Er hält den Zeigefinger an die Lippen und zischt laut. Alle schweigen. Wir üben das Vaterunser, Oce Nas von Kedrov. Dieses Stück, dass mir schon in den Proben zu Hause Gänsehaut machte. Sascha schließt die Augen, gibt ein Zeichen. Wir setzen ein, die "Ohs" schwellen an, immer mehr, immer runder, so wie er es uns vormacht. Der Raum scheint schier zu bersten unter unserer Stimmgewalt. Mein Kopf vibriert von all dem Wohlklang, bis in die Haarwurzeln. Mein Herz will überschwappen vor Glück, Traurigkeit und Schönheit zugleich. Ich habe Mühe, das Wasser unten zu halten. Das zu spüren bin ich hergekommen, diese Fülle an Leben. Und es ist dieses Wissen in all den Tönen darüber, was geschehen ist, in all der Zeit vor uns.





für Wilfried 

Montag, 24. Oktober 2011

Eugenie und Cecilia

Ein Duft hüllt mich ein wie eine warme Woge. Ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Ein bisschen mondän. Ein Duft, der eine Geschichte zu erzählen scheint von den starken Frauen aus einem Familienclan. Starke Frauen, die ihren Mann stehen mussten, zwischen den Kriegen - und die doch schön waren und verführerisch. Etwas von Salon ahne ich darin, vom Rascheln kostbarer Stoffe, von Geheimnis, von einer Liebe, über die niemand wissen durfte. So wie Jasmin heimlich duftet in einer warmen Nacht, verboten und stark.


Die Erfinderin des Duftes ist nicht von hier. Sie erzählte mir, sie sei in Bukarest geboren und habe im Atelier ihrer Großmutter Eugenie Puppenkleider entworfen. Ich stelle mir diese Stadt vor. Eine Straße mit palastartigen großen Häusern, Jugendstilornamente, ein Frauenkopf mit üppiger Haarpracht über einem Eckladen, einem kleinen Atelier. Es ist später Nachmittag zwischen fünf und sechs. Der Himmel wird langsam dunkelblau. Ein sonniger, kalter Tag geht. Der Laden ist hell erleuchtet. Die Inhaberin Eugenie steht an einer Schneiderpuppe und macht die letzten Stiche an einem Kleid aus purpurnem Taft. Das Kleid ist nur für einen einzigen Abend gemacht worden. Sie weiß das. Die Auftraggeberin weiß das.


Danach würde Eugenie es in Zahlung nehmen und irgendeiner anderen verkaufen. Sie hat das Kleid für ihre Freundin genäht, ihre Freundin, die gerade in Bukarest zu Besuch ist, eine Woche lang, bevor sie in Wien wieder die Gemahlin des Commercialrats sein wird. Eugenie seufzt. Warum muss immer alles so kompliziert sein? Ihr eigener Mann, den sie geliebt hat, kam nicht aus dem großen Krieg zurück. Der ungeliebte Mann von Cecilia konnte dagegen von einem Büro aus Krieg führen und ihm ist nichts geschehen. Dennoch lernte Cecilia während dieser Zeit einen Arzt aus Bukarest kennen. Frühverwitwet. Vielleicht würde Eugenie ihn von der Freundin in Zahlung nehmen können wie das Kleid, nach dieser Nacht.


Da kommt sie in hastigen Schritten. Klingkling, die Ladentür. Oh, ich bin so aufgeregt! Hast du es fertig? Ja, hier, du kannst es anprobieren. Eugenie geht zur Puppe und löst die Häkchen. Es ist wunderschön, sagt Cecilia und wird rot. Ob er das verdient hat? Ob ich das verdient habe?
Manchmal muss so etwas sein, sagt Eugenie - für eine Erinnerung in der langen Strecke des Lebens. Die beiden jungen Frauen gehen nach hinten in die Ankleide. Cecilia entkleidetet sich bis auf die Unterwäsche. Eugenie hilft ihr in den purpurroten Stoff. Der fühlt sich kühl an, kühl und noch etwas steif. Aber, mit den Bewegungen und der Berührung kommt Wärme hinein und Weichheit. Eugenie zieht und zupft. Cecilia ächzt. Ist das nicht zu eng? Setz dich mal hier auf den Hocker, sagt Eugenie und schüttelt den Kopf. Das muss so sitzen. Allerdings bräuchtest du schon Hilfe - beim Ausziehen, sagt sie ganz leise, lächelt und schlägt die Augen nieder.


Die letzten Korrekturen mache ich draußen im Licht. Die beiden jungen Frauen bewegen sich wieder nach vorn in den Laden. Mein Gott, das bin ich gar nicht, sagt Cecilia, die sich nun erstmals im Spiegel sieht. Na, um so besser, antwortet Eugenie. Dann musst du keine Gewissensbisse haben. Die beiden Freundinnen lachen leise. Ich danke dir, sagt Cecilia und umarmt Eugenie. Warte, hier muss ich den Faden noch vernähen. Cecilia spürt die Festigkeit des Metalls in der Taille und atmet ein. Eugenie beißt den Faden durch. So, sagt sie.


Cecilia dreht sich ein paar mal um die eigene Achse und umarmt Eugenie nochmals. Wie kann einem  ein einziger kleiner Moment soviel Glück bedeuten? sagt sie und schüttelt den Kopf. Und dann: Ich muss los. In einer halben Stunde beginnt die Oper. Sie greift nach ihrem Cape, das sie über einen Sessel gelegt hatte. Warte kurz, sagt Eugenie und läuft nochmal nach hinten Richtung Ankleide. Mit einem kleinen Flacon in der Hand kehrt sie zurück. Was ist das?, fragt Cecilia. Mein erstes Parfum, sagt Eugenie. Ich habe es mit einem Parfumeur aus Paris entworfen. Sie öffnet den Flacon und betupft Cecilia sanft hinter den Ohren. Nimm es, sagt sie und gibt Cecilia den Flacon in die Hand. Cecilia kann gar nichts mehr sagen vor Rührung und lässt den Flacon still in ihre Handtasche gleiten. Die Freundinnen umarmen einander nochmals und Eugenie bringt Cecilia zur Tür. Klinkling.


Wie in einer duftenden Woge läuft Cecilia durch Bukarest - und ich durch Offenbach nach einem Besuch bei Astrid Merger, die gerade ihr erstes Parfüm entworfen hat. Ich konnte nicht widerstehen. Cecilia steht jetzt bei mir auf der Kommode im Flur und wartet auf einen schönen, kalten Winter voll geheimnisvoller Momente.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Schreibmobil




Beim Schreiben war es mir schon früh ein besonderes Anliegen, mobil zu sein. Genauer gesagt, in jedem Zimmer an verschiedenen Plätzen schreiben zu können. Im Wohnzimmer, wo ich Kerzen habe im Winter und wo ich auf dem Sofa sitzend, umgeben von irgendeiner Lieblingsmusik, die Gedanken schweifen lassen kann. Oder im Sommer mit einem Stuhl und einem kleinen Tischchen im Grünen zwischen den Vögeln. Oder nachts, wenn im Haus alle schlafen, völlig lautlos in der Küche zu sitzen und Lichtwörter in die Tastatur klicken.

Diese Mobilität, die mir eine gewisse Freiheit bezüglich Raum und Zeit geben würde, betrachtete ich vor rund zehn Jahren sogar als „Voraussetzung“ zum Schreiben. Damals war man noch weit davon entfernt, den Computer überall mit hinnehmen zu können. 

Die elektrische Schreibmaschine bot in jener Hinsicht das Höchste der Gefühle. Vorausgesetzt, man hatte keinen Dinosaurier als Gerät, so wie ich. Die alte Triumph-Adler war ein Modell aus der Pionierzeit der elektrischen Schreibmaschine. Sie kam mir vor, wie eine alte behäbige Dame, die sich über die Jahre fettgefressen hatte und die deshalb nicht mehr richtig von der Stelle kam. Sie war, im Gegensatz zu den vielen modernen Geräten heute, buchstäblich nicht tragbar, das heißt, ich konnte sie nicht allein heben.
Eine weitere Schwäche der alten Dame war, dass ihre Typen ein wenig steif waren, wenn sie länger unter ihrer grauen Kunstlederkappe geruht hatte. Die kleinen Metallhebel mit den Buchstaben darauf waren dann schwergängig und schlugen am Anfang einer Schreibstunde nur schwach auf das schwarze Farbband. Die Buchstaben waren hell, besonders auf der rechten Seite, wo das o und das p sitzen.


Es war im Winter 1990. Ich hatte das Gerät bereits aufgegeben und irgendwo abgestellt, wo es nicht im Weg war, als ich zu dem Schluss kam, dass mir zum Schreiben vor allem wichtige äußerliche Voraussetzungen fehlten.

Es ist November. Während ich schreibe, ist es draußen völlig dunkel geworden. Es regnet und ist sehr windig. Der richtige Abend, um in der warmen Wohnung zu sitzen und zu schreiben. Ich habe das alte Fossil wieder angeworfen, weil ich glaube, dass es mich inspiriert. Vorher gibt es allerdings, wie man sieht, ein paar der üblichen Schwierigkeiten. Ich muss erst eine Verlängerungsschnur holen, um das Monstrum anzuschließen. Dann kommt wieder das Platzproblem. Auf dem Boden kann ich schlecht schreiben, außerdem ist die Maschine so schwer, dass ich sie nur mit großer Mühe von einem Zimmer ins andere schleppen kann. Sie steht jetzt auf dem alten Nähmaschinentisch, der hat sogar Rollen und so kann ich sie hinschieben, wo ich gerade schreiben will. Das ist toll. Ich habe sie jetzt ins Wohnzimmer gekarrt und sitze auf einem Sessel mit dem Fenster im Rücken. So ist es sehr angenehm.

Als endlich das vertraute Brummen ertönt und ich loslegen will, hängt das Farbband und kein Buchstabe wird gedruckt. Jetzt habe ich die kleine Unwilligkeit behoben und muss noch die schwergängigen Buchstaben einschreiben. Während ich schreibe, wackelt alles ein wenig hin und her, besonders bei der Zeilenschaltung. Meine Zigarette droht vom Aschenbecher zu fallen und in meinem Weinglas schwappt es bedrohlich.

In der Autobiographie von Arthur Miller gibt es ein Kapitel, in dem er über die Schwierigkeiten beim Schreiben berichtet und in dem er beschreibt, wie er sich erst eine eigene kleine Holzhütte bauen musste, um irgendwo schreiben zu können. Ich fand es sehr tröstlich, dass es einem großen Schriftsteller wie ihm große Schwierigkeiten bereitet hat, die geeigneten Örtlichkeiten und Gelegenheiten zum Schreiben zu finden.

Es kann tatsächlich sehr hemmen, wenn das Drumherum nicht stimmt. Ich kann in der Straßenbahn schreiben und im Café. Zu Hause fällt es mir eher schwer, weil es da immer hundert andere Sachen gibt, die ich vorher zu tun habe. Aber ich will jetzt einfach, dass das Schreiben einen festen Platz in meinem Leben bekommt. Beim Lesen kommen mir oft gute Ideen und ich finde es schade, sie einfach wieder zu vergessen, wenn ich das Buch zurück ins Regal stelle. Ich möchte so gern über Dinge schreiben, die viele Menschen betreffen, die normal und alltäglich und dennoch die Dinge sind, die wir am wenigsten verstehen, am wenigsten akzeptieren. Fragen, die immer mehr werden, solange das Leben dauert. Zum Beispiel, die eigene Vergänglichkeit begreifen. Wie Scott Fitzgerald sagt: „Of course all life is a process of breaking down, ...“ Auch, wenn ich es weniger hart formulieren möchte, führt das Leben unweigerlich zum Tode und damit zur Unbedeutsamkeit des Selbst, des Ich.

Wie soll die Geschichte also jetzt beginnen? Mit einem Dialog oder sollte ich zuerst die Hauptperson beschreiben? Oder soll ich etwa mit den Nebenpersonen beginnen? Schwer zu lösende Probleme. Dennoch sollten sie mich nicht daran hindern, einen Anfang zu machen. Einen Anfang, der schon lange überfällig ist. Meine Unzufriedenheit wächst mit jedem Tag, an dem ich wieder nichts Eigenes geschrieben habe und nur lese und lese.

Das alte Schreibmobil inspirierte mich vor Jahren, es muss wohl 1989 gewesen sein, zu einem 50 bis 60-seitigen Romananfang, den ich wenig später verworfen habe, weil mir die Gedanken darin, die Entwicklung der Protagonistin inzwischen antiquiert vorkam oder gar spießig. Mein Leben entwickelte sich anders. Auch bemerkte ich, dass es mir nach zwei bis drei Kurzgeschichten und Erzählungen noch sehr schwer fiel, eine längere Handlung zu entwickeln. Jetzt erst, nach vielen Jahren arbeite ich an einem umfangreichen Text, der inzwischen 130 Seiten umfasst. Im Grunde setzt er sich aus Einzelerzählungen wie Mosaiksteinchen zu einem Großen zusammen. Diese Art der Entstehung längerer Texte ist vielleicht sogar sehr häufig, aber dass es funktioniert, ist mir erst viel später aufgegangen. Die Arbeit an kleineren Texten, die man dann zusammenfügt, verschafft dem Schreibenden eine ähnlich große innere Mobilität der Gedanken wie die Schreibmaschine auf dem Rollentisch äußerliche Beweglichkeit gewährt.

Heute muss ich keine großen Vorkehrungen mehr treffen und auch die Typen nicht mehr einschreiben. Ich kann einfach mein funkelnagelneues Laptop aufklappen und loslegen. Es gibt also wirklich keine Ausrede mehr – außer, das Hirn macht nicht mit, was meist der schwerwiegendste Hinderungsgrund ist. Und da war ich natürlich mit meinem Fossil im Vorteil: Gleichzeitig mit der Mechanik konnte ich mein Hirn aufwärmen.