Nun saß ich also in diesem schönen Raum, blauweiß gefliest an den Wänden, Pfeffer und Salz am Boden. In diesem Raum, in dem schon viel gebacken wurde. Sechzig Jahre lang Brote, danach Ton - und nun also Ideen. Ich darf Sie begrüßen in meiner "Ideebäckerei" hatte der Hausherr gesagt - der Hausherr von Peters' Bakery in Offenbach.
Und damit war ich preisgegeben hinter meiner grünen Lampe. Preisgegeben zweiundsiebzig Ohren und zweiundsiebzig Augen - die ich zum Glück nicht sah. Ich sah nur die grauen Konturen von Köpfen und Schultern und weiter hinten die skurrile Lampe über dem langen Tisch. Eine Lampe aus Treibholz und Glühbirnen, ein Designerstück des Hausherren, das etwas von einem Hirschgeweih hat, ein sehr expressionistisches Hirschgeweih - vielleicht passt sie deshalb so gut in den Raum.
Und vor mir mein Blatt. Das erste Blatt eines Kapitels, das ich vorlesen wollte, mit meinen Worten darauf, die nun nicht mehr mir gehörten, die ich nun freiließ Stück für Stück. Sie fielen in den Raum, zuerst leicht unrhythmisch, etwa wie eine Maschine, die erst ins Laufen kommen muss, dann immer gleichmäßiger wie das Ticken einer alten Uhr, die ja auch mit ihrem Ticken den Menschen immer etwas von ihrer Zeit nimmt. Ich lauschte meinen eigenen Sätzen, wie sie da in die Stille trafen, in die Stille, die nur einmal vom Brummen eines Handys durchbrochen wurde und einmal von einem schüchternen Hüsteln. Doch ich machte immer weiter, fuhr fort, meine Worte aneinander zu reihen, denn deutlich vernahm ich in der Stille die gespannte Erwartung des nächsten Wortes.
Ich wusste ja, wie das enden würde, wusste ja, dass ich diese Erwartungen enttäuschen würde - nicht mit Worten, sondern mit dem, was meine Protagonisten taten und mit dem, was ihnen infolgedessen zustieß. Ich hätte immer so weiterlesen können - aber darüber wäre es dann wohl Weihnachten geworden.
Gestern aber las ich nur dieses eine Kapitel und ich kann nur sagen, die Ideebäckerei hat Nachwirkungen. Sie äußern sich in Worten und Sätzen, die mir in den Sinn kommen, in einer Art Schreibzwang, der mich heute erfasst. Dabei muss ich an Henry Miller denken, der des öfteren sein Schreiberlebnis schilderte und schrieb, dass er den Wendekreis des Krebses wie unter einem Diktat geschrieben habe. Ich bin mal gespannt, wo dieses "Diktat" mich hinführt.
Wenn mir mal die Worte fehlen, weiß ich jedenfalls wohin. Ich werde um Asyl bitten, in der Offenbacher Ideenbäckerei.
In Offenbach gibt es einen Ort, der so völlig von der Welt vergessen scheint, dass man es kaum fassen kann, wenn man ihn zum ersten Mal betritt. Es ist ein Ort der Ruhe und der Einkehr, ein Ort, der einen die Welt da draußen für eine Stunde oder mehr einmal völlig vergessen lässt. Vielleicht eignet er sich zur Entspannung viel besser als sogenannte künstlich errichtete und viel bevölkerte "Wellness-Oasen". Es handelt sich um den Alten Friedhof, der umrahmt von alten Sandsteinmauern sein friedliches Dasein an einer der verkehrsreichsten Ecken von Offenbach bewahrt.
Der gestrige schöne Herbsttag zwang mich geradezu nach draußen. Zumal der Alte Friedhof auch in einem Kapitel meines Stadtführers "Offenbach zu Fuß"vorkommt. Am gestrigen Nachmittag wanderte ich also die Mathildenstraße soweit hinunter, wie nie zuvor - und stieß tatsächlich direkt auf das Tor zu diesem verwunschenen Ort. Natürlich wusste ich schon immer, wo der Alte Friedhof ist. Allerdings fährt man in der Regel mit dem Auto an der hohen roten Mauer vorbei und kann kaum ahnen, was sich dahinter verbirgt. Und Friedhof, das war für mich seit Kindertagen der Rumpenheimer Friedhof, wo sich auch die Gräber meiner Verwandtschaft befinden.
Der Alte Friedhof ist anders. Er hat die Aura eines sagenumwobenen Ortes. Wohl auch, weil dort viele berühmte Offenbacher, hugenottischer und jüdischer Herkunft ihre letzten Ruhestätten gefunden haben - und weil dort seit Jahren keine neuen Gräber mehr errichtet werden. Dafür gibt es den Neuen Friedhof an der Mühlheimer Straße.
Als ich gestern Nachmittag durch das schmiedeeiserne Tor trat, wurde ich sogleich von dieser besonderen Aura erfasst. Das herbstlich goldene, aber verhaltene Licht, die knorrigen Äste der alten Platanen, die steinernen Zeugen einer längst vergangenen Zeit und diese unglaubliche Ruhe empfingen mich direkt hinter dem Eingang. Ein grünbemoostes Engelskind, ein von Wind und Wetter gezeichneter Christuskopf - und dann all die Namen. Namen, die einen augenblicklich verstummen lassen. Namen, die jedem, der hier lebt, bestens bekannt sind und noch mehr, die man leider nicht kennt - darunter viele jüdische. Beim Anblick dieser Namen wurde mir plötzlich bewusst, dass all diese Menschen tatsächlich gelebt haben. Sie liefen wie ich in dieser Stadt herum, die zugegeben, damals noch ein bisschen anders aussah, die aber trotz vieler Schicksalsschläge hier und da noch alte Gesichtszüge bewahrt hat. Dieses Bewusstsein versetzte mich in eine ganz besondere Stimmung. Wie ich so vor viele der Grabmähler hintrat, um sie genau zu betrachten, den Faltenwurf der Engelsgewänder, ihre nachdenklichen Gesichter, ihre sprechenden Hände, die eingemeißelten Jahreszahlen und hebräischen Schriftzeichen, tauchte ich ein in andere Zeiten.
Die Friedhofsgärtner auf ihren brummenden kleinen Geländefahrzeugen kamen mir seltsam fremd vor und auch die Schornsteine der ehemaligen Allessa da draußen oder die Schilder von Reifen Seher waren nicht zugehörig zu dieser Welt. Obwohl draußen der Verkehr tobte, herrschte hinter den Mauern eine Art innere Ruhe, die allein vom Ort ausging und vielleicht von den Seelen der Menschen, die hier liegen.
Wenn ich wieder einmal Urlaub von der Welt da draußen brauche und schnell ein paar andere Gedanken, dann werde ich wiederkommen und hier zwischen den alten Steinen ein wenig herumstreunen. Und wenn ich irgendetwas zur Erhaltung dieses Ortes tun kann, will ich es gerne tun.
Heute früh hatte ich noch so eine Ahnung davon auf der Zunge. Eine Ahnung des gestrigen Abends im Offenbacher Stadtteilbüro Nordend. Dort tafelt zweimal im Jahr die "Interkulturelle Kocharena" und ich darf wieder in der Jury bei diesem kulinarisch-kulturellen Austausch mitschmecken. Diesmal stehen zunächst ganz unsinnlich "Speiseregeln" als Motto für die drei Termine im November auf dem Plan: koscher, hellal und vegetarisch. Gestern also ein Menü aus der Jüdischen Küche.
Die Neugier war wie immer groß beim Betreten des kleinen, gemütlichen Raums in der Bernardstraße, das einen dann mit einer langen weißgedeckten Tafel empfängt. Diese war gestern schon gut besetzt mit erwartungsfrohen Besuchern, deutscher, marokkanischer und jüdischer Herkunft. Weiter hinten in der Küche ging es schon lebhaft zu. Eine Dame köchelte am Herd und erzeugte wunderbarste Gerüche, die andere schnitt Rote Beete und entkernte einen Granatapfel. Beide kochen in Frankfurt für die jüdische Gemeinde.
Ich setzte mich zu meinen Mit-Jurorinnen Marina Caktas und Andrea L'Abbate an die lange Tafel und gespannt studierten wir die Menükarte. Der Raum füllte sich mit fröhlichem Gemurmel, die Theke mit immer mehr Köstlichkeiten - und dann ging es endlich los. Mit einer vegetarischen "Leberpastete" und Auberginensalat. Und eines war gleich klar, wer diese "Leberpastete" auf dem Tisch hat, kann hessisch Lebberworscht getrost mal entbehren. Die feine Pastete aus Walnussmus und hartgekochten Eiern war köstlich, ebenso der Auberginensalat - gar nicht fettig und schön für's Auge. Schnell waren die Platten leergeputzt und man wartete gespannt auf den Hauptgang.
Wer bei Hackfleischbällchen nur an ordinäre Frikadellen denkt, dem sei gesagt, es geht auch anders. Diese sogenannten "Grünen Fleischbällchen" waren aus reinem Rindfleisch und hatten es in sich: Petersilie, Kreuzkümmel, Koriander, Anis und wer weiß, was noch. Mit Tahini-Sauce schmeckten sie unglaublich gut. Dazu gab es einen tollen Feldsalat mit Rote-Beete-Würfelchen und Granatapfel sowie einen orientalischen Reis mit Rosinen und Karottenspänen.
Die Küchenchefin des Abends, Anat Kozlow, erklärte uns, dass die Jüdische Küche oder besser gesagt, die Neue Israelische Küche Speisen aus aller Welt auf der Karte habe und sehr bunt und abwechslungsreich sei. So seien die "Leberpastete" und der Auberginensalat Gerichte aus Osteuropa, während die Fleischbällchen arabisch und der Reis iranisch seien. Als "koscher" allerdings könne man unser Menü nicht bezeichnen, weil es nämlich in "unkoscheren" Räumen entstanden sei und wir auch von "unkoscherem" Geschirr aßen. Für uns, die wir damit nicht aufgewachsen sind, klingt das ganz schön kompliziert - aber jedenfalls war dieser kleine Ausflug in die Jüdische Küche superlecker.
Und interessant ist auch, dass eigentlich jede Kultur gerne kocht und isst und bestimmte Speisen zu bestimmten Anlässen serviert. Das bringt dann Leute zusammen. So wie unsere zusammengewürfelte Gruppe gestern Abend - und das ist schön. Dafür lohnt es sich auch mal, einen ganzen Tag in der Küche zu stehen.
Ach ja und dann gab's noch ein frei erzähltes Jüdisches Märchen aus Marokko von Patrick und Nachtisch: Einen Salat aus Pampelmusen, Orangen, Pomelos Feigen und Nüssen. Was soll ich noch schreiben? Ich kann den nächsten Termin am 22. November kaum erwarten.
Die großen Platanenblätter rascheln unter meinen Füßen, der Wind zaust mein Haar, die Hunde tragen Mäntel. Während ich heute so vor mich hin raschelte, ging mir eine Frage durch den Kopf: Woher kommen eigentlich Ideen? Beispielsweise für eine Website? Für Bildwelten und Wortwelten? Mit dieser Frage beschäftige ich mich eigentlich schon sehr lange, bemerkte ich so beim Nachdenken. Denn es gibt immer wieder Kunden, die sich standhaft weigern, Informationen und Bilder, die ihr Unternehmen und ihre Dienstleistungen oder Produkte beschreiben, weiterzugeben.
Man macht einen Entwurf und Kunde sagt: langweilig! Ich will's anders! Wenn man dann nachfragt, was genau er langweilig findet und wie genau er es anders will, wird's interessant. Dann nämlich beginnt ein Prozess. Dann muss sich der Befragte Gedanken über sich selbst und über sein Unternehmen zu machen. Und dann fließen plötzlich ganz viele Informationen.
Der zweite Entwurf überrascht dann oft - weil er so "anders" ist - und Kunde fragt: Warum denn nicht gleich so? Das frage ich mich dann auch. Denn sicher ist: Ideen sprießen nicht wie Pilze aus dem Boden. Sie gedeihen vielmehr auf fruchtbaren Boden - wenn da aber nur öde Steppe ist, naja...dann wächst auch nichts. Das zeigt einmal wieder: Reden ist Gold und schweigen ist blöd.
Ich zögere mit dem Hinausgehen. An einem Morgen wie diesem, düster und feucht, ist das nicht leicht. November eben. Am Montag Abend habe ich mich mit einem Offenbacher Taxifahrer aus Marokko unterhalten und ein wenig über das Wetter gejammert. Da sagte er, zu meinem Erstaunen, dass er so ein Wetter, wie wir es gerade haben, ganz gern mag. Er bemerkte meine Überraschung und beeilte sich mit der Erklärung: "Doch, ich finde, das hat was. Besonders gegen Abend, wenn man irgendwo in einem Restaurant sitzt oder in einer Bar und rausschaut in den Regen - das ist so eine ganz besondere Stimmung." Da ist was dran, dachte ich und musste ihm zustimmen. Besonders die Stadt hat bei Dämmerlicht und Regen so eine melancholische Aura, die irgendwie zu Saxofonmusik passt und der man sich kaum entziehen kann. Das muss ich bald einmal ausprobieren, mit dem Laptop in irgendeiner Bar.
Bei diesen Gedanken bin ich schon auf meinem Weg in den Park. Der Himmel hat nicht viel zu bieten, also richte ich meine Blicke auf die leuchtend bunten Blätter am Boden. Ein schönes Gelb wie Sonnenstrahlen ist darunter. Ich beschließe heute mit meiner Runde im Park zu bleiben und wende mich am schönen Klohäuschen nach rechts zum ehemaligen Rosenheim Museum. Zu meinem Erstaunen brennt dort Licht und die Rollläden sind oben. Mit ihrem leicht verwitterten Charme, dem armamputierten Zentaur und dem Licht im Erker passt der Anblick so recht zu meiner Novembermelancholie. Bin gespannt, wer dort einzieht.
Eine Blaupause zwischen den Wolkenbändern macht den Kopf frei. Ich nehme sie dankbar an und begebe mich mit den Stöcken ins Freie. Nach Monaten, so kommt es mir vor. Obwohl das nicht stimmt. Ich war viel draußen in der letzten Zeit. Bin Dribdebach und Hibdebach von Termin zu Termin gehechtet, soweit die Füße tragen. Und keine Zeit zur Besinnung. Das muss anders werden, denke ich. Besonders kurz vor Weihnachten - und es ist kurz vor Weihnachten. Einmal am Tag die Zeit anhalten - wenigstens für eine halbe Stunde verlorengehen für die Welt da draußen und bei sich sein. Das nehme ich mir heute vor und das wünsche ich auch meinen Mitlesern. Denn mir kommt's vor, als ob im Moment alle um mich herum rennen, als wollten sie das Jahr einholen. Aber, das geht sowieso nicht. Wir sind alle im Lauf der Zeit.
Die Blätter fallen unaufhaltsam. In der Platanenallee am Schlangenbrunnen steht schon der große Container, der alle einsammeln wird. Dann ist es Winter und man fragt sich, wo das Jahr wieder hingekommen ist. Aber spätestens an Neujahr geht es wieder aufwärts. Ein neues Jahr, neue Hoffnungen und irgendwann Frühling. Bis dahin trink ich noch ein Tässchen Tee.