Montag, 26. Dezember 2011

Als ich mal nach Frankfurt wollte

Schon morgens gegen zehn mache ich mich auf. Nur schnell noch ein paar Weihnachtskarten einwerfen und dann rüber nach Frankfurt. Noch ein paar Geschenke kaufen und dann meine beste Freundin im Café Hauptwache treffen, so wie jedes Jahr.

Es regnet einen sehr feinen Regen, der einem vortäuscht, man könnte gehen, ohne nass zu werden. Nicht mit mir. Schirm auf und die Luisenstraße runter in die Stadt. Die Luisenstraße ist am Bahnhof sehr schön und weiter unten sehr hässlich, birgt aber kulinarische Ziele, die den Weg lohnen. An der Nummer acht suche ich die Briefkästen. Erst in den Hof und ein Treppchen rauf. Es ist eines der schönsten umgebauten Industriegelände, in dem eine befreundete Agentur ihren Sitz hat. So würde ich auch gern einmal logieren. Man muss ja Träume haben. Aber Briefkästen hat's offenbar hier nicht. Wieder raus, auf die Straße. Als ich schon fast vorbei bin, entdecke ich doch noch einen Briefkasten. Hinein mit meinen Weihnachtsgrüßen und weiter. Ein Stückchen in die Geleitsstraße hinein. Dort sitzt mein Steuerberater. Auch hier muss ich in den Hinterhof. Aber, den Briefkasten kenne ich schon. Wieder zurück in die Luisenstraße. Ich komme nicht sehr weit, da lockt mich ein frischer, blumiger Duft. Unverkennbar Kappus, die Seifenfabrik. Links leuchtet der kleine Laden. Da war ich eigentlich noch nie drin. Das liegt daran, dass ich hier meist nur abends vorbeilaufe. Ein paar schöne Seifen...da wird mir bestimmt jemand einfallen, dem ich die schenken kann. Also hinein.

Drinnen duftet es nach allen Blüten des Sommers. Noch ein bisschen unschlüssig stehe ich vor Lavendel-Duschgel. Da entdecke ich wunderschöne Dosen, die über und über mit Rosen bedruckt sind. Ich öffne eine und wirklich - sie duften wie Rosenblüten. Da nehme ich gleich zwei und stelle mich an die Kasse. Bei einem anderen Kunden, der vor mir dran ist, beschwert sich die blonde Verkäuferin: Die mache mit mir hier, was se wolle. Einmal 'es Lehrmädsche, immer es Lehrmädsche...ich sach's ja. Ihre Bemerkung amüsiert mich, weil sie sehr nach Heimat klingt und weil das Lehrmädchen schon ziemlich in die Jahre gekommen ist. Gut gelaunt verstaue ich meine Rosendosen und verlasse den Seifenladen.

Weiter geht es, Richtung Frankfurter. Schon von weit leuchtet das gelbe Schild des Mekong. Mekong ist ein sehr gut sortierter Asia-Laden in Offenbach. Dort gehe ich immer rein, auch, wenn ich eigentlich gar nicht weiß, was ich will. Heraus komme ich immer mit einer ganzen Tüte voll. Es fasziniert mich, die ganzen fremden Dosen und Tütchen zu inspizieren. Irgendetwas völlig Unbekanntes wandert immer mit in meine Tüte. Heute sind es ein paar herzförmige grüne Blättchen, die ich neben dem Koriander entdeckt habe und ein Glas Mintsauce von Coleman. Von einer Bedienung aus dem White Elefant weiß ich, dass man sie mit Joghurt anmischt. Das wollte ich schon immer mal probieren.

Wieder zurück auf die Frankfurter. Dort beschließe ich bei Cuore frischen Kaffee zu kaufen. Das ist einfach lustiger, als bei Rewe an der Kasse zu stehen. Drinnen Gitarrenklänge, als hätte ich sie bestellt. Verschiedene Weihnachtslieder werden von zwei Männern am Fenster eingeübt. Sie reden hessisch und singen italienisch. Ich lasse mir von Franco den Kaffee malen. Er duftet wunderbar. Das führt dazu, dass ich nicht mehr so sehr weit komme. Genau bis zu Pedro nämlich. Das ist ein kleines Café auf der linken Seite stadteinwärts. Sehr liebevoll geführt. Es gibt tollen italienischen Caffè und Aida-Plätzchen aus Sizilien. Das ist ein köstliches Mandelgebäck. Fast wie überdimensionale Bethmännchen. So eins gönne ich mir heute, aus Pistazienmarzipan. Und eigentlich ist es Zeit für ein klitzekleines Mittagessen. Ein Tramezzino mit Parmaschinken und Pecorino. Das gönne ich mir auch. Schließlich ist Weihnachten. Ich sitze in dem wunderbar betörendem Kaffeeduft, bewundere die rotgoldene Weihnachtsdeko über der Theke und lasse mein Tramezzino auf der Zunge zergehen. Ein Himmel voller Kitsch. So muss es sein.



Weiter geht es nun in Richtung Herrnstraße. Hier muss ich auch ein paar Karten einwerfen. Zum letzten Mal in diesem Jahr betrete ich den schönen Mosaikfußboden im Bernardbau. Immer einen Besuch wert. Die Briefkästen sind leicht zu finden. Wieder auf der Herrnstraße wende ich mich nach links zu Astrid Merger. Eigentlich will ich ihr in der kleinen Boutique nur meine Karte übergeben, aber im Grunde  könnte ich hier auch für meine Nichten eine Kleinigkeit kaufen. Ist doch netter als einen Gutschein von H&M. Aber, was nur? Astrid schlägt mir einen schönen Schal vor. Das wäre wirklich was. Mir fällt ein, dass die eine der Nichten so auf pink und lila steht und just in diesem Augenblick entdecke ich ein paar kleine Stulpen, pink mit lila Pelzbesatz. Die müssen es werden, denke ich. Wir brauchen eine Weile, bis wir dazu ein Halstuch finden. Dann dasselbe Spiel nochmal mit kleinen weißen Stulpen. Inzwischen ist Frau Mergers Schwester hinzugekommen und sucht auch mit. Als wir alles haben, kommt eine kleine ältere Dame herein, die von den Schwestern begrüßt wird. Offenbar eine Stammkundin. Sie grüßt uns sehr freundlich, aber fast übergangslos bricht sie in Tränen aus und erzählt uns, dass sie gerade einen Fahrradunfall hatte. Das Fahrrad ist hin, aber ihr ist wenigstens nichts passiert. Wir bringen ihr einen Stuhl, trösten sie und mein Aufenthalt verlängert sich um ein halbes Stündchen.

Eigentlich wollte ich noch nach Frankfurt, sage ich irgendwann. Was wollen Sie denn da? fragt die ältere Dame fast entrüstet. Tja, naja, ich habe mich mit einer Freundin an der Hauptwache verabredet. Ach so. Irgendwie scheint sie beruhigt. Ich nehme meine ganzen Päckchen und Tüten und sage: Und jetzt habe ich hier das ganze Zeug hier dabei. Die ältere Dame lächelt und sagt, ist doch gut, dann sehen die da drüben mal, dass wir hier auch was haben. Wir lachen und ich verabschiede mich.

Sonntag, 11. Dezember 2011

Auf den ersten Blick ganz harmlos - Caffè Cuore Offenbach

Als ich zum ersten Mal im Caffè Cuore war, befand es sich noch auf der Kaiserstraße. Mir waren die kleinen, hübschen Espressokännchen aufgefallen - und dann stand da noch: Eigene Röstung. Ein wenig schüchtern trat ich damals ein und befand mich gleich in Italien. Die Eigentümer waren selbst wohl erst vor kurzem in Deutschland angekommen. Ein junger Mann mit schwarzem Haar und beeindruckend blauen Augen jedenfalls sprach mit einem älteren italienisch. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte auf italienisch, wo sie herkämen. Aus Lecce, conosce Lecce? war die Antwort. Ja, ich war tatsächlich mal durchgefahren, durch die Stadt am Ende des Stiefelsporns.

Mein erster Einkauf war Espresso und ein neuer Dichtungsring für mein eigenes Kännchen, ein hübsches Ding von Bugatti, das ich einmal in Sorrent erworben hatte. Seitdem zog es mich immer wieder ins Cuore, um Espresso zu kaufen (der ein sehr schönes kräftiges Robusta-Aroma hat) und Alio-Olio-Gewürz, das eine unverzichtbare Zutat für jede meiner Nudelsaucen geworden ist. Und dann, vor etwa zwei Jahren war ich sehr betrübt, als ich mein Lädchen an seiner Stelle nicht mehr fand. Wieder einer, der es nicht geschafft hat, dachte ich, denn in Offenbach haben es die Läden nicht leicht. Umso erfreuter war ich dann, als ich Caffè Cuore später auf der Frankfurter Straße und sogar in größeren Räumen wieder fand. Inzwischen gab es auch ein paar Holztische, an denen man sich für ein Schwätzchen niederlassen konnte.


Letzte Woche gab es einen besonders schönen Anlass, einmal abends ins Caffè Cuore zu gehen. Das Wetter war alles andere als angenehm an dem Abend. Sturm und Regen hatten sogar Platten am Citytower beschädigt. Nahezu todesmutig also machte ich mich auf zu einer ganz besonderen Buchpräsentation - die sich in jeder Hinsicht gelohnt hat.

Die Autorin Ida Todisco stellte dort stilecht ihr liebenswertes Buch über ein Dutzend sehr besonderer Offenbacher: "Offenbach. Liebe auf den zweiten Blick" vor. Einer dieser besonderen Offenbacher ist Franco, der Betreiber des Caffè Cuore. Er hat nicht nur dieses kleine Ladencafé mit viel Liebe zum Detail eingerichtet, sondern spielt auch bei besonderen Gelegenheiten Gitarre zu selbst gesungenen italienischen Schlagern. Am Donnerstag wurde dieses Programm noch durch eine deutsche Sängerin mit schöner, dunkler Altstimme und zwei Kubaner an den Drums erweitert. Dazwischen Blitzlichtgewitter und Gläserklingen für Ida und ihr Buch, das sehr liebevoll gestaltet vom Cocon-Verlag ein sehr schönes Weihnachtsgeschenk ist. Ich jedenfalls habe gleich zwei Bücher geordert, eins für mich und eins für meine Mama, die solche Geschichten aus dem ganz alltäglichen Wahnsinn liebt. Und ich wüsste noch einige andere Menschen, in meinem Umfeld, denen das Büchlein gefallen würde. Ich habe an diesem Wochenende die Geschichte von Metzger Angelo und Frühlingsrollenproduzent Duc Tran mit großem Interesse gelesen. Danke Ida, für diese schönen Ein- und Augenblicke!

Und ins Cuore muss ich auch bald wieder - der Dichtungsring von meiner Bugatti...

Ein Dezember-Nachmittag im Märchen

Ein kleiner Zwischenstopp in der Mokkaria in Frankfurt-Bornheim. Gerade so fast auf meinem Weg zwischen Bergerstraße und Prüfling, wo ich noch einen Abendtermin mit einem möglichen Auftraggeber habe. Ich hatte schon von dieser kleinen Oase gehört, aber es noch nie dorthin geschafft. Neben dem aufgemotzten ehemaligen Straßenbahndepot in der Heidestraße, wirkt der Eingang eher klein und unscheinbar. Und doch, diese kleinen, kugeligen weißen Lämpchen, die nur ganz leicht an Aladdin's Wunderlampe denken lassen, ziehen mich magisch an.



Eingetreten, zögere ich ein wenig, unsicher, ob ich an den Kaffeehaustischlein entlang der Theke Platz nehmen soll oder weiter hinten im kleinen orientalischen Salon. Die marokkanischen Teetische mit den schön gearbeiteten  Messingplatten gewinnen gegen Marmor - und ich platziere mich in ein Eckchen gleich rechts neben der Theke, schwer einsehbar und gemütlich und bestelle einen grünen Tee mit Zitronengras im gläsernen Samowar. Es tut gut, sich in die weichen Polster zu schmiegen. Sie sind schön gemustert, Blumenornamente in Türkis und Bordeaux. An den Wänden typisch marokkanische Sternenornamentik, weiß auf hellem Grau.


Wie im Märchen, denke ich - und dabei gar nicht verstaubt. Die Musik einer Wüstenflöte lässt mich an diesen Film denken "Der englische Patient". Der kleine Raum hier mitten im kalten Bornheim wäre der perfekte Ort für eine solche Szenerie: Ein Liebespaar, das sich ein, zwei Stunden stibizt und der Welt da draußen, mit ihrer Geschäftigkeit und ihrem Streben für kurze Zeit verlorengeht. Natürlich wäre es ein nicht so ganz legales Liebespaar. Wahrscheinlich wären beide verheiratet und der Zufall hatte sie an einem Nachmittag in der übervollen S-Bahn zusammengespült. Eine plötzliche Berührung hatte sie Worte finden lassen und es hatte sich eine lebendige Unterhaltung entwickelt, die sie irgendwo fortsetzen wollten, ganz arglos noch. Sie hatten sich orientalischen Mokka bestellt, der hier auf heißem Sand zubereitet wird. Alles war plötzlich neu und schön und die beiden unterhielten sich über Reiseerlebnisse in fernen Ländern, über den Geschmack fremder Speisen. Ihre Hände fuhren ein wenig nervös die Blumenornamente auf den Polstern nach und verschlangen sich fast zwangsläufig ineinander. Und irgendwann sahen sie sich in dem Halbdunkel mit großen Augen an und fanden keine Worte mehr.


Ein schöner Anfang für eine Kurzgeschichte, denke ich, als mich Worte wie I-phone, App und D1-Netz aus dieser Vorstellung heraus sehr schnell wieder in die Wirklichkeit befördern. So würde es meinem Liebespaar wohl auch gehen, denke ich. Denn so ein fast vollkommener Augenblick kann einfach nicht ewig andauern. Sonst besäße er nicht diesen Zauber.

Ich zahle an der Theke und vor mir stehen drei Silbertabletts mit süßen orientalischen Leckereien, die nur so von Zuckersirup und Rosenwasser triefen. Vielleicht sollte ich mir ein paar aussuchen und doch diesen Augenblick noch andauern lassen? Jedenfalls werde ich wiederkommen!

Montag, 5. Dezember 2011

Geschmackserlebnisse in Little Italy

Der Morgen war nicht schön. Er war diesig und kalt, aber wenigstens regnete es nicht. Das genügte mir für meinen kleinen Ausflug. Ich hatte mich für eine ganze besondere Stadtführung in meiner eigenen Heimatstadt angemeldet. "Esskultour" nannte sie sich und sie wird von Loimi Brautmann, der an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert, organisiert.

Um zehn Uhr trafen wir uns im Salzgässchen und begannen unseren Spaziergang in unbekanntes Terrain. Denn obwohl ich mich nach all den Jahren gut auskenne, meide ich doch bestimmte Ecken oder Gässchen, weil sie mir uninteressant oder finster scheinen oder weil sie einfach nicht zu meinen ausgetretenen Pfaden gehören.

Die Route führte uns zunächst in die Kantine des Rathauses. Als Gourmet-Tempel nicht so interessant, aber eine Möglichkeit, um sich aus dem fünfzehnten Stock einen Überblick über die Stadtarchitektur zu machen. Ein wenig erschreckend, das kleine Chaos von oben. Danach ging es zu einer kleinen Moschee in der Glockengasse. Sie befindet sich versteckt in einem Höfchen und daneben gibt es ein kleines Restaurant - Treffpunkt der türkischen Gemeinde. Dort bekamen wir warme türkische Pizza und ein Glas Tee. Mein Frühstück für diesen Tag.

Nach einem Besuch in der gegenüberliegenden Bäckerei, wo wir frische Sesamkringel holten, ging es weiter. Ziel war ein kleiner indischer Laden in der Bieberer Straße, den ich zwar schon kannte, der aber wegen der köstlichen Samosas immer einen Besuch lohnt. Außerdem ist es so schön indisch dort. Es riecht nach Räucherstäbchen und Curry und ich mag die Betreiberin, eine ältere Dame mit weiß meliertem Haar und runder Brille. Sie lächelt und man versteht sich ohne Worte.

Die nächste Station lag in einer unscheinbaren Hofeinfahrt. Es handelte sich um die Mozzarella-Käserei L'Abbate, die sich dort in einem weißen Hinterhaus verbirgt. Einziger Hinweis: die italienische Flagge. Und hier, so ungefähr zwischen Friedrich- und Karlstraße liegt ein sehr winziges Little Italy. Zugegeben kann man Offenbach nicht mit New York vergleichen. Aber, diese paar Sträßchen haben etwas vom abgewetzten Charme der großen Schwester und auch etwas von ihrer Verruchtheit. Zwischen zwielichtigen Spielotheken und Kitschläden gibt es ein paar sehr gute kleine Lebensmittelgeschäfte, die den Weg lohnen. Also, zurück in die Käserei. Dort bekamen wir im lauwarmen Duft von Bio-Odenwaldmilch Mozarella-Spießchen und frisch gekochten Ricotta von Andrea L'Abbate gereicht. 

Ein (un-)heimliches Geschmackserlebnis.

Eine Ecke weiter waltet Angelo, der Meister der Wurstmaschine. Keiner versteht es, den Parmaschinken und die Mortadella so hauchdünn zu schneiden wie er - so glaube ich jedenfalls. Die italienische Salsicce werden ebenfalls direkt vor Ort gemacht. Und vor Weihnachten hängt der Himmel im Lädchen voller Panettone.

Angelo

Am liebsten hätte ich noch einen Abstecher in die kleine Pasticceria gegenüber gemacht, weil es dort sicher die kleinen Cannoli gefüllt mit Riccotta Creme gibt, aber das stand wohl nicht auf dem Programm. So habe ich jedoch, einen triftigen Grund wiederzukommen. Denn eines ist sicher, ich werde in Zukunft noch ein paar andere Wege austreten in Offenbach - und Little Italy wird auf jeden Fall dazugehören.

Pasticceria

Die kleine Route endete schließlich stilvoll mit einem Espresso bei dem kleinen roten Kaffeewägelchen auf dem Wochenmarkt und ich kam mir ein bisschen so vor als kehrte ich aus einer unbekannten Stadt zurück, die ein heimliches Dasein führt inmitten des Bekannten.

Bahnhof, Balkangrill und Barbiepuppentorten

Und da wandere ich wieder. Im Buchrainweg geht es los, die Darmstädter runter Richtung Bahnhof. Spätestens in der Marienstraße verlasse ich das Idyll der westlichen Stadt und nähere mich dem Bahndamm, der die Stadt teilt. Eine graue Mauer führt daran entlang, durchbrochen von feuchtfleckigen Tunneln ins Zentrum. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Glitzern silbrig, grün und rot. Da hat jemand versucht, etwas Schönheit zu verbreiten. Ich wechsle die Straßenseite, um das genauer zu sehen. Bilder aus Fliesen à la Gaudí. Wirklich liebevoll gemacht. Besonders die kleinen blauen Eulen mit den gelben Kaffeetassenaugen. Leider muss ich Hundehaufen ausweichen, Pappkartons und Flaschen. Was die Leute so liegenlassen an Orten, die nicht eben schön sind. 

Es ist nicht leicht, diese Stadt zu lieben. Es ist ein bisschen so, wie mit einer kleinen Schwester, die mitten in der Pubertät steckt und nichts an ihr will recht zusammen¬passen. Die Nase zu klein, der Mund zu groß, die Beine zu lang. Und trotzdem weiß man, auch dieses Mädchen hat Sehnsüchte – auch dieses Mädchen will vor allem schön sein. 

Ich durchquere die Unter¬führung und wende mich Richtung Bahnhof, vorbei an diesem längst vergessenen kleinen Biergarten. Im Zaun fehlen Latten und obendrauf gab es mal eine Verzierung aus Holz, von der noch ein einziges Teil zeugt. Hinter dem Biergarten befindet sich ein schöner, hoher Raum. Er wird wieder genutzt, manchmal jedenfalls – als Ausstellungsraum der Hochschule für Gestaltung. 

Früher war dort die Bahnhofsgaststätte. Dort habe ich Russische Eier gegessen, mit Mayonnaise und deutschem Kaviar - salzige schwarze Kügelchen, die lustig knackten, wenn man darauf biss. Ansonsten waren diese Essen immer ein bisschen traurig, weil wir dann meine Großeltern zum Zug brachten. Russische Eier – das hieß Abschied. 

Der Bahnhof selbst sieht heute etwas verlebt aus. Man merkt ihm sein Alter an und die Nichtbeachtung, seit der ICE vorbeirauscht. Dabei fällt der Bau mit seiner treppenartigen Fassade sofort ins Auge. Art Déco Reliefs um die Eingangstüren und in der Halle schöne grüne Fliesen, unterbrochen nur von weißen Ladenfronten. Läden, die nun leer stehen. Ich weiß, dass oben auf dem einen Bahnsteig ein kleiner schöner Brunnen mit einem Fabelmotiv steht. Der Rabe und der Fuchs. Der Rabe hat ein Stück Käse im Schnabel und der Fuchs will es haben. Er bittet den Raben, ihm doch etwas vorzusingen, mit seiner schönen Stimme. Man ahnt, was passiert. Mein Opa musste mir die Geschichte hundertmal erzählen - ich liebte es, wenn er den singenden Raben nachmachte - bis der Zug kam.

Bahnhofsbrunnen

Dann die Kaiserstraße runter. Ehemals prachtvolle, große Häuser, in denen sich früher Läden oder Restaurants befanden. Eiscafé Dolomiti. Bestes Bananeneis der Stadt, heute ein „Raucherlokal“. Aber, in den Hinterhöfen tut sich was. Agenturen sind hier eingezogen, ein Kunstverein und ein Modeatelier. Menschen, die auch versuchen, diese Stadt zu lieben. 

Rechts in die Geleitsstraße hinein. An der Ecke war früher das San Remo, ein etwas zwielichtiges italienisches Café. Gut, dass es weg ist. Aber gegenüber gab es auch eine nette Studentenkneipe, das Harlekin, in einem sehr niedlichen alten Häuschen, weiß gestrichene Klinker und olivgrüne Jugendstildamen, die den Erker auf ihrem Kopf tragen. Das Harlekin ist weg – stattdessen weist ein großes knallblaues Schild auf einen Balkangrill hin. Die Jugendstildamen geraten daneben in Vergessenheit. 

Balkangrill

Ein Stückchen weiter kommt eine türkische Konditorei mit den schrillsten Tortenmotiven, die ich je gesehen habe. Heute entzückt mich die Barbiepuppentorte. Barbie ruht in einem grünweißen Bett aus Marzipanmargeritten. Spätestens dieser Anblick versöhnt mich mit meiner Stadt – und ich bin dankbar für dieses Bunte neben dem Alltäglichen, dieses Andere neben dem Normalen. Wenn ich hier an einem sonnigen Tag runterkomme, kann ich mir einbilden, ich ginge gerade in Palermo spazieren oder in Istanbul. Es riecht sogar so: Ein bisschen nach Döner, ein bisschen nach Zuckerwatte, ein bisschen nach Müll.

Barbiepuppentorten

Dann überquere ich die Waldstraße, kreuze Koffer Roth und Rosenapotheke und höre schon das Leben. Der Wilhelmsplatz mit seinem Markt. Hier treffen alle auf alle, Türken auf Griechen, Italiener auf Vietnamesen, Hessen auf Franken und Offenbacher auf Frankfurter. 

Das war früher nicht so. Als ich die nahegelegene Wilhelmschule besuchte, liebte ich auch schon die Markttage. Mit meinen Freundinnen kaufte ich eine Dampfnudel beim Bäcker und einen giftgrünen Apfel beim Obststand. Es gab nämlich einen stillschweigenden Wettbewerb darum, wer den sauersten Apfel essen konnte. Und dann war da noch die Attraktion des Fischwagens, wo lebendige Aale erschlagen wurden, was wir gleichzeitig fasziniert und angewidert beobachteten. 

Aber alles in allem war es viel weniger bunt. Ich malte damals in der Schule ein Bild von diesem Markt – es ist eine Tuschezeichnung in Schwarzweiß.

Vergessene Stadtvillen, verwaiste Tankstellen und eine entjungferte Eisdiele

Ich lasse die Zwiebelkuppel und das schlanke, weiße Minarett hinter mir. Nach einem Interviewtermin am Ortseingang von Bieber, beschließe ich von dort aus in die Stadt zurückzuwandern. Immer die Bieberer lang. An der alten Matofabrik geht es los. 

Ich kenne diesen Weg. Vor vielen Jahren bin ich ihn oft gelaufen. Wenn ich Mathe gelernt hatte, mit meiner Freundin Bille, die mit ihren Eltern in einer Alten Schuhfabrik an der Bieberer wohnte. Wir gingen damals aufs Abendgymnasium in der Geleitsstraße und machten uns immer zwischen vier und fünf auf den Weg in die Stadt. Die Nachmittage bei Bille waren meine späte Hippiezeit. Wir saßen auf der Terrasse der Fabrik, tranken Tee aus Tontassen und Bille drehte die elegantesten Joints, die ich im Leben geraucht habe, und bevor ich sie kannte, hatte ich nie einen geraucht. 

Ich überquere die große Kreuzung an der Rhönstraße stadteinwärts. An dieser Stelle ist die Bieberer fast noch Autobahn. Viel zu breit für die schönen, villenartige Stadthäuser zu beiden Seiten. Schon damals, als ich mit Bille hier lang lief, und wir aus heutiger Sicht beneidenswert jung waren, fielen uns diese schönen Häuser auf. Ich komme mir wie in einem Zeitraffer vor, an diesem sonnigen Nachmittag. Was ist anders? Nur ich? Oder sogar nicht einmal ich?

Es tut mir immer noch weh, wie hier die Autos vorbeirauschen und die Stadtvillen immer schwärzer und schwärzer machen. Ihre Schönheit konnte sie nicht schützen, vor der modernen Stadtplanung. Eines von ihnen, nah der Landgrafenstraße, scheint etwas vernachlässigt, vielleicht verlassen und deshalb von einem besonderen Zauber umgeben – als wäre es gar nicht von dieser Welt.

Haus-des-Wachtmeisters-Slama

Darauf weißt schon der morsche, gänzlich bemooste Bretterzaun entlang eines riesigen Gartens hin. Immer mal wieder fehlt eine Latte und ich kann einen Blick erhaschen auf alte Obstbäume. Das Haus ist aus rostroten Klinkersteinen gemauert und zum Garten hin erhebt sich ein verspielter Spitzgiebel mit Schieferdach und großem Balkon darunter. Hier könnte man wunderschön frühstücken – mit Bille zum Beispiel, aber die ist längst weggezogen. 

Mit seinen Metallspitzen an Dach und Giebeln sieht es aus wie ein Landhaus irgendwo im Osten. Es ist so ein Haus, wie aus einem Roman von Joseph Roth, den wir damals in Deutsch lasen. Das Haus des Wachtmeisters Slama in Mährisch Weißkirchen zum Beispiel, dessen schöne Frau den jungen Protagonisten des Radetzkymarschs ins Wanken brachte. Dort hat es natürlich nicht an einer großen Straße gestanden, sondern eher am Ende eines vergessenen Ortes. Der Eingang des Hauses sieht etwas neuer aus. Die Tür scheint irgendwann erneuert, Namensschilder sind lesbar. Der Name Slama ist nicht darunter. Gerade als ich ein Foto mache, ist ein Geräusch zu hören. Ich beschleunige meinen Schritt. 

Ein Stück weiter auf der linken Seite leuchtet blütenweiß eine verwaiste Tankstelle, in der typischen Architektur der sechziger Jahre, mit einem schönen halbrunden Dach. Vielleicht gehört sie niemandem. Jedenfalls gibt es kein Zeichen einer menschlichen Besiedelung. Ich wundere mich, dass sie trotzdem stehengeblieben ist, wie das Wahrzeichen einer verblühten Ära in nahezu Hopperscher Manier. In diesem Sinne könnte ich diese Tankstelle eine Weile beleben, sie zum Sinnbild menschlicher Verlorenheit in einer anonymen Großstadtkulisse machen. 

Tankstelle

Doch vor mir, Richtung Bahnüberführung, lockt schon ein anderes Bild. Im Blau des Herbsttages überwältigt es mich fast – das könnte Berlin sein oder gar New York. Beschreibungen des Viertels um die Brooklyn Bridge von Henry Miller kommen mir in den Sinn beim Anblick der Eisenbrücke mit ihren winkligen Streben. Dahinter buchstäblich aufgetürmt, eine scharfes Übereinander von Schön und Hässlich: Schwarze Stromleitungen im Knäuel, die üppigen ockerfarbenen Rundungen der Marienkirche, stahlblau und unnahbar glitzernd, der Citytower. So etwas zwingt zum Hinsehen. Zum Hinsehen und zu einem Gedanken darüber, welche Zeiten diese Stadt durchlebt hat. 

Unter der Brücke ein Stück Niemandsland. Keine Menschenseele, nur ein kleiner grauer Bauwagen und ein rotblaues Verkehrsschild. Eine Kulisse für ein Leben, das in Hoffnungslosigkeit beginnt. In einer Hoffnungslosigkeit, die keine Erwartungen weckt und einen Menschen deshalb mit Dankbarkeit ausstattet und mit einem Optimismus, der für ein ganzes Leben reicht. Vielleicht sind deshalb die Menschen hier von einer gewissen Unbekümmertheit – und Stolz.

Brooklyn-Bridge

So wie der Wirt des Tri Am, eines kleinen Lokals gleich rechter Hand. Ein Vietnamese und Offenbacher Original zugleich, mit langem, dünnen Bart und strengem Blick. Er schreibt seine Speisekarten selbst. Kleine kalligraphische Kunstwerke. Seine Empfehlungen dulden kein Widerwort und sind immer gut. Mit dem Tri Am wird die Bieberer zu einer kleinen kulinarischen Abenteuermeile, die Mut erfordert, aber auch die Neugier weckt. Schräg gegenüber in der Bismarckstraße ist ein neues italienisches Lokal eingezogen: Il Pistacchio. Hier serviert man selbstgemachte Pasta. Etwas weiter kommt ein weißes Schlösschen, das Monte Christo, heute ein russisches Lokal. Früher hieß es Lucullus und war ein gehobenes Restaurant. Hierhin wurde Bille von unserem Bibliothekar ausgeführt – und ich ging als Anstandsdame mit. 

Weiter stadteinwärts über den Mathildenplatz mit der Marienkirche, die als einzige in der Stadt wie eine Kirche aussieht. Links ein indisches Lädchen mit wahnsinnig guten Mangos. Die Präsentation der Waren ist sehr indisch, ein kleines wohlgeordnetes Chaos: Ein Turm Kichererbsendosen halten die Tür auf. Rechts im Schaufenster eine Gemüseregal mit strubbeligen Bittergurken und Okraschoten. Links die Theke mit rosaroten und giftgrünen Süßigkeiten. Im Hinterzimmer säckeweise Reis. Es duftet nach Räucherstäbchen, Mangos und Curry. 

Schräg gegenüber befindet sich ein nahezu heiliger Ort: Das ehemalige Cortina Eiscafé – heute San Carlo und eine eher zwielichtige italienische Spelunke. Mit seinem obszön fetten Schriftzug des Namens und den abgeklebten Fenstern, scheint der Ort auf eine brutale Art seiner einstigen Jungfräulichkeit beraubt. Das Cortina war ein Ort der Sehnsucht. Es bedeutete Sommer und Schule schwänzen oder Hitzefrei. Hier machte ich mit Bille vor dem Beginn der Abendschule Station. Und oft stieß Yvonne zu uns. Wir bestellten Milchmix Himbeer oder Nuss oder Orange. Eisbecher konnten wir uns nicht leisten. An einem besonders heißen Tag saßen wir vor der schönen Fototapete mit den drei Zinnen, ganz hinten im Café, wo sich die Tür zum Klo befand. Bille hatte am Vorabend ein Briefchen zugesteckt bekommen, von Klaus. Und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Denn da half keine Logik, wie in Mathe. Yvonne und ich schoben uns die Antwort hin und her, schrieben abwechselnd einen Satz, zwischen Nähe und Schüchternheit, Raffinesse und Naivität. Gerade war ich dran, da kam unsere Lieblingskellnerin mit ihrem kleinen ovalen Tablett und drei hohen Gläsern. Sie versuchte etwas von dem Geschriebenen zu erhaschen und ich versuchte es mit einer schnellen Handbewegung zu verbergen. Das kleine ovale Tablett kam ins Wanken, die Gläser ins Schleudern und in einem weißen Schwall ergossen sich die Milchmixe über den Tisch, unsere Briefchen und flossen genau in meine Richtung, an der Kante des Tisches hinab in meine Schultasche aus hellem Leinenstoff. Wir sprangen auf. Die Bedienung setzte das Tablett ab, lief nach Handtüchern und ich stülpte in Windeseile den Inhalt meiner Schultasche auf einen der Nachbartische, um wenigstens die Bücher zu retten. Wir tupften und wischten bis der Schaden einigermaßen behoben war. Die Lieblingsbedienung brachte uns weitere Milchmixe – aber den Geruch von saurer Milch mit einem Anflug Himbeere bekam ich aus meiner Schultasche nie wieder ganz heraus.

Jahre später endet mein Stadtspaziergang im Tafelspitz, besser gesagt draußen auf der schönen Terrasse am Wilhelmsplatz. Die Sonne scheint auch heute und der Platz mit seinen hübschen Häusern und den vielen Cafés prangt und blitzt. Ich bestelle einen Topfenstrudel mit Zwetschgen und fühle mich nicht mehr wie unter der Brooklyn Bridge, sondern fasst ein bisschen wie in einem Stadtgarten im Ersten Wiener Bezirk. Und das ist vielleicht der Grund, warum ich nie weggegangen bin: In dieser Stadt gibt es ein Stückchen von allem.

Freitag, 25. November 2011

In der Offenbacher Bahnhofslounge achtzehn:52

Morgens richtete ich mit Anna den Raum her. Dieser Raum im Offenbacher Hauptbahnhof, der früher mal eine Bäckerei war und noch früher eine düstere Spielothek. An unserem Morgen schien die Sonne golden in unseren Raum hinein, der so ganz in weiß noch etwas nüchtern aussah. Bis zum Abend sollte er sich in ein Wiener Kaffeehaus verwandeln. Das hatte der Raum noch nicht erlebt - und ich hätte es nie im Leben geglaubt, dass ich hier einmal aus meinem Roman lesen würde - das Kapitel "Kaffeehausmusik", das im Wiener Café Central spielt. Irgendwie fand ich es wichtig, die Zuhörer ein wenig in die richtige Stimmung zu versetzen, mit ein paar kleinen Attributen: Einem roten Stück Stoff, Musik und Sachertorte. Und natürlich mit Annas Großstadtfotos, die zwar Offenbach abbilden, aber in ihren Details für das Thema Stadt überhaupt stehen können. Melange hatten wir die Veranstaltung genannt, wegen dieser Mischung aus Wien und Offenbach und uns beiden, Milch und Kaffee, blond und braun.


Mit dem Besen in der Hand und Shostakovich im CD-Spieler ging es los. Es dauerte nicht lange, da hatten wir Publikum: Verdutzte Pendler und Ordnungshüter. Zum Walzer Nummer Zwei tanzten wir ein wenig übermütig von Ecke zu Ecke, stellten die Stühle auf, hängten die Bilder auf, nagelten den roten Samt an die Wand und schoben meinen Fauteuille davor. Zwei schön gemusterte Tapetenrollen ins Fenster  - fertig!


Danach mussten wir unsere Ungeduld noch bis zum Abend zügeln - und arbeiten. Zur blauen Stunde, kurz nach fünf, machte ich mich im schwarzen Samtkleid wieder auf, meinen Hackenporsche in der Rechten, gefüllt mit kleinen roten Büchlein, die Sachertorte und eine roten Nelke in der Linken. Wie ein kleiner vergnügter Übeltäter kam ich mir vor, als ich mit meinen absonderlichen Utensilien zum Hintereingang des Bahnhofs, von dem ich jahrelang ins ungeliebte Frankfurt gefahren war, hineinschlich.


Alles war noch seinem Platz. Die Bilder hingen fest, der rote Samt auch. Ich schnitt meine Torte auf und stellte Kaffeetassen bereit, die eine nette Dame uns samt Kaffee zur Verfügung gestellt hatte. Wenig später kam Anna mit wunderschönen grünen Klunkerohrringen angetan. Wir stellten die kleinen roten Büchlein mit meiner Geschichte darin hinter den Kaffeetassen auf und zündeten die Kerzen an. Meine Schwiegermutter brachte weitere Torten und nach und nach kamen die Gäste. Ich wurde langsam ein wenig nervös und zupfte an meiner Strumpfhose, die irgendwie rutschte. Anna begrüßte Freunde und stellte sie mir vor. Ich tat das gleiche und freute mich über den regen Zulauf.




Und dann war es soweit: Ich saß da vor den erwartungsvollen Gesichtern, hörte mich ein paar einführende Worte sagen und begann dann mit diesen ersten Sätzen des sechsten Kapitels. Eines Kapitels, das einen Wendepunkt in diese seltsame Nochnicht-Liebesgeschichte der beiden Protagonisten bringt. Jedes Wort hatte ich abgewogen und nun beim Lesen spürte ich, wie diese einzelnen Worte in den Köpfen der Zuhörer widerhallten. Einige sahen mich dabei ganz genau an und es war so, als ob ich diesen Dialog zwischen den Liebesleuten, den ich da vorlas, mit ihnen selbst sprach. Zwischen den Sätzen konnte ich die Stille hören und in ihr die Erwartung an das Weitergehen der Geschichte, an das Ende, das ja noch keines ist.

Das schönste Kompliment war  ein zustimmendes Raunen, nachdem ich geendet und hinzugefügt hatte, dass ich im nächsten Jahr weitere Kapitel lesen würde. Und einige sagten mir, dass sie so gespannt wären, wie es weitergeht.



Ja, das bin ich auch, gespannt wie es weitergeht. Nicht direkt mit dem Text, denn der liegt hier schon auf meinem Tisch. Aber mit der Veröffentlichung dieses Romans. Ich hoffe, ich kann nächstes Jahr noch ein paar rote Büchlein drucken - und schließlich auch das ganze Buch weitergeben.


Die schönen schwarzweiß-Fotos von Anna gibt es übrigens neben anderen stylischen Geschenken am nächsten Mittwoch in der Bahnhofslounge zu kaufen. Aber, don't call it a Weihnachtsmarkt!


*Die Fotos hat mir freundlicherweise Hans-Jürgen Herrmann zur Verfügung gestellt.

Freitag, 18. November 2011

Im Forum der 1822: Der Kopf als Zettelkasten

Vor ein paar Tagen bin ich mal wieder über den Fluss gefahren. Ins Kunstforum der 1822. Dorthin hatte Eloise Hawser, Städelschülerin bei Tobias Rehberger, und gebürtige Engländerin geladen. 


Die Gegend um die Fahrgasse erinnert mich immer an meine frühen Berufsjahre bei der Degussa AG. Und die Exponate von Eloise Hawser passten irgendwie zu dieser Erinnerung. Es handelt sich dabei um Dinge aus dem Büroalltag, auf kluge Art verfremdet, und zum Kunstwerk erhoben.


Gleich, als ich reinkam zog mich die leuchtend blaue Abdeckung eines Kopierers magisch an. Die alten Kopierer meiner frühen Bürotage hatten tatsächlich solch blaue Deckel. Ich empfand es damals als Segen, dass sie solange zum Kopieren brauchten. Da konnte ich mal ein paar Minuten auf dem dunklen Flur meinen ganz persönlichen Gedanken nachhängen. Und keiner konnte was dagegen sagen. 




Meine Erinnerung wurde noch weiter angeregt von einer jungen Sprecherin aus dem Portikus, die für ihre Einführung auf ein weiteres Kunstwerk, eine bekritzeltes Flipchartblatt, hinwies. Dieses hatte wohl als Inspirationsquelle gedient. Denn es stammt tatsächlich aus einer Anwaltskanzlei, in der Eloise jobbt - und es hatten sich darauf Kollegen mit kleinen Zeichnungen und Sprüchen verewigt. 


Ein Kopierer also. Damit wird Gedankengut vervielfältigt. Unendlichfach. Oft stehen Sachen auf den Papieren, die man eigentlich im Kopf haben sollte, kam es mir in den Sinn. Jedenfalls fügten sich zu der Kopiererabdeckung sehr schlüssig die weiteren Exponate. Besonders schön: Ein Kopf mit abnehmbarer Abdeckung, seitlich offen mit Schubfächern darin. Gerade so, dass man die Papiere dort hineinlegen könnte. Nur ob das nützen würde, diese Ablage? Denn Ablage ist ja meist im Sinne des Wortes tatsächlich "abgelegt". 


Für mich steht dieser Zettelkastenkopf jedenfalls auch für den ganzen Gedankenmüll, den man so tagtäglich in seinem Oberstübchen herumträgt - und der einem manchmal die Sicht auf das Wesentliche versperrt. 


Dieser Gedanke hat irgendwie meine Woche gerettet und dafür danke ich der Künstlerin. Entstanden sind die Kunstwerke übrigens in den Werkstätten der HfG Offenbach, im dortigen 3-D-Zentrum.





Mittwoch, 2. November 2011

Könnte ich mein Leben nochmals...

Letzte Woche fuhr ich mit der Regionalbahn über die Offenbacher Stadtgrenze und sogar über die hessische Landesgrenze hinaus, ins nahe gelegene Aschaffenburg. Ich hatte dort ein paar Gesprächstermine am Nachmittag und am Abend ein Treffen mit ehemaligen Kollegen der inzwischen auch längst ehemaligen PR-Agentur Hiller, Wüst und Partner. Ich freute mich, wieder einmal hier zu sein und wollte meine Mittagspause in einem kleinen Café verbringen, in dem ich früher auch so manche Mittagspause verbracht hatte.

Es handelt sich um das Vivere. Ein wahres Kleinod hessisch-fränkischer Kaffeehauskultur, dank einer Inhaberin, die einen Sinn hat für Handgemachtes und Hausgemachtes aus Frankreich und dem Mittelmeerraum, wo sie viele Rezepte für kleine Speisen und bunte Fruchtsirups gesammelt und weiterentwickelt hat. Aber, es gibt auch fast Vergessenes aus Deutschland: Limonaden und Liköre aus Brandenburg, die eine alte Dame aus den Früchten des eigenen Gartens mixt und braut. 
Es war ein warmer Spätsommertag Ende Oktober. Ich bestellte mir eine Hollunderblütenlimonade und stöberte in der interessanten Karte, noch nicht sicher, ob ich Auberginengemüse mit Rosmarin oder einen der köstlichen Kuchen probieren sollte. Nach kurzer Zeit öffnete sich wieder die Tür und ein großer, Schlanker kam herein. Das erste, was mir neben seiner Größe auffiel, waren seine meerfarbenen Augen und seine schönen, braunen Schuhe mit Budapester Lochmuster. Er blickte sich kurz um und nahm dann am Tisch neben mir Platz, wo er das große Fenster, aber auch die Tür im Blick hatte. 


Die Inhaberin fragte nach seinem Wunsch, aber er sagte, er würde noch auf jemanden warten. Der jemand entpuppte sich als eine blonde, gerade noch junge Frau. Sie strahlte ihm entgegen. Er erhob sich freudig und sie begrüßten sich mit zwei sehr zarten Küsschen rechts und links. Nur so hingehaucht. Sie schienen kein Paar im strengen Sinne. Jedenfalls entnahm ich das ihren Blicken, die forschend waren und gleichzeitig vorsichtig und ihren Worten, die so neben mir hin- und herflogen. 


Hier war ich schon vier oder fünf Jahre nicht mehr, sagte er. Ja, genau, erwiderte sie und ich konnte sehen, wie ihr die Röte am Hals nach oben stieg. Und sofort dachte ich bei mir: Hier fing alles an. Dieses Herzrasen. 


Sie sahen sich lange an und ich konnte fast die Gedanken sehen, die ihr durch den Kopf gingen dabei. Da musste einiges gewesen sein, zwischen den beiden. Dein Haar ist kürzer, sagte sie schließlich und fasste hinüber an seine Schläfen, ganz sacht, fast ängstlich, ihn wirklich zu berühren. Sein Haar war hellbraun und sehr fein, so wie die Flaumfedern eines kleinen, frechen Vogels. Hab ich mich verändert?, fragte er. Sie lächelte und schüttelte langsam den Kopf. Nein, sagte sie und strich dabei über seine Längsfalte auf der linken Seite. Er meinte äußerlich, sie innerlich. Unwesentlich, ergänzte sie. Als er das aufnahm, war sein Lächeln ein wenig frech, ein wenig ängstlich, ein wenig vage. Und dabei lief so ein Lied, von einer Frau mit einer irre tiefen Stimme, Marla Glen: Enough is enough. 


Die Inhaberin kam an den Tisch und fragte nach ihren Wünschen. Er bestellte Kaffee und sie sagte: Einen Tee vielleicht und überlegte wieder sichtbar. Haben sie Earl Grey? Ja, sagte die Inhaberin, aber wir haben auch Winterzauber, mit Nelken und Zimt oder...Nacheinander zählte sie an die zehn Teesorten auf. Die Blonde sah die Inhaberin an und versuchte offensichtlich, die Sorten irgendwie zu behalten. Oder doch lieber Earl Grey?, fragte die Inhaberin zusammenfassend. Ja, sagte die Blonde und lächelte ein kleines dankbares Lächeln.


Süß!, kam es plötzlich aus ihm hervor und dann sah er sie mit diesen Augen wie das Meer an. Mit Augen, die alles versprechen und nichts halten, ging es mir durch den Kopf. No more tears, sang Marla Glen.   


Sie sahen sich wieder eine Weile still an. Die Luft zwischen ihnen schien zu flimmern. Jetzt bin ich ganz glücklich, sagte er. Und sie: Jetzt in diesem Augenblick? Ja, jetzt in diesem Augenblick. Warum ist das so, fragte sie nach einem langen Blick aus großen, traurigen Augen. Es war damals auch so, sagte er. 


Längst hatte ich mein rotes Notizbuch aufgeschlagen und schrieb diese ganze Szene mit. Zur Tarnung blätterte ich immer mal wieder in der Speisekarte und legte sie halb über mein Geschriebenes.


Na, weißt du, sagte er und schlug dabei die Augen nieder. Das zehrt schon alles. Aber, ich will nicht jammern. Bei diesem Ausspruch lächelte er sie wieder voll an. Dein Haar ist dunkler, sagte er. Wie gern würde ich da jetzt reinfassen. Wie um ihm zu Hilfe zu kommen, beugte sie sich ein wenig nach vorn, so dass ihre blonden Haarsträhnen zu ihm hinwippten. Es ist Herbst, sagte sie und es klang, als ob nun einfach für immer Herbst sei. 



Zum Trost bestellte ich mir ein Stück Käsetorte mit heißen Zwetschgen.

Er erzählte von seinen Söhnen, die nun wohl erwachsen waren. Seiner sachlichen Schilderung entnahm ich, dass es nicht ihre Söhne waren. Wollte er ihr damit sagen, dass der Weg jetzt frei war, freier jedenfalls als damals?


Wo bist du jetzt überhaupt?, fragte sie. Hab' ich dir das nicht erzählt, fragt er und sie schüttelte den Kopf. Wir haben doch zwei Jahre gar nichts voneinander gehört. Er atmete tief ein und nannte einen Firmennamen, erzählte, wie es mit seiner eigenen Firma zu Ende gegangen war. Nach einem weiteren Dutzend Wimpernschlägen fragte er mit leiser, fast ängstlicher Stimme: Was sagt eigentlich die Uhr?, und ich dachte, dass auch er hier nur eine etwas ungewöhnliche Mittagspause verbrachte. Bestimmt nichts Gutes, erwiderte sie. 


Es war sehr schön, dass wir das gemacht haben, sagte er und erhob sich langsam, fast behutsam, so als sei die Stimmung zwischen ihnen ein zartes Gebilde, das er nicht zerstören wollte. Was machst du jetzt?, fragte er. Gehst du noch ein bisschen durch die Stadt? Ja, sagte sie, ich schaue mal nach Schuhen und gehe bei meinem Optiker vorbei. Er nickte und winkte der Inhaberin, die mit ihrem Portemonnaie herankam. 


Die Blonde war inzwischen auch aufgestanden und die beiden verabschiedeten sich - auch wieder mit zwei Küsschen rechts und links. Aber diesmal geschah das langsam und zögernd wie in Zeitlupe. Es schien, als würden beide währenddessen darüber nachdenken, ob etwa ein anderer Kuss angebrachter sei und beim Zurückgehen streiften sie einander unmerklich die Lippen. 


Er ging durch die Glastür und gleichzeitig kam ein junges Mädchen mit einem Golden Retriever herein. Sie band ihn los und plauderte mit der Inhaberin. Offenbar brachte sie das Tier nach einem Spaziergang zurück. 


Der Hund kam zu der Blonden an den Tisch, scharwenzelte um sie herum und stupste ihr mit seiner feuchten Nase ans Bein. Babou, lass, sagte die Inhaberin und kam herbei. Gell, sie sind am Nachdenken, meinte sie zu der Blonden. Möchten sie ein paar Gummibärenherzen? Die Frage hatte etwas Tröstendes und etwas Komisches zugleich. Die Blonde lächelte ebenfalls, schüttelte den Kopf und erhob sich. Vermutlich waren Gummibärenherzen jetzt das das Letzte, was sie wollte. 


Als sie gegangen war, sah ich mir nochmals die handgeschriebene Speisekarte an. Auf der letzten Seite stand ein kleines Gedicht. Es begann mit den Worten: Könnte ich mein Leben nochmals leben...

Freitag, 28. Oktober 2011

Oče naš

Wir sitzen in einem alten Saal über der Stadt. Der Stadt Belgrad, von der ich nichts wusste und von der ich keine Vorstellung hatte, außer der, dass Wilfried irgendetwas Tiefes mit ihr verbindet. An der Decke ziehen sich lange Risse, quer über den Saal. Es ist heiß, die Luft steht und keine Maus fände hier noch Platz. Wir Deutschen empfinden die Enge und Stickigkeit als unangenehm. Die Serben finden nichts dabei. Sie plaudern und lachen unbekümmert. 




Wie wird das gehen, diese beiden Temperamente zu einem Klang zusammenzubringen? Alle warten auf Sascha, den anderen Chorleiter, den die Serben ehrfürchtig "Maestro" nennen. Dann kommt er. In einem leuchtend grünen Shirt und schwarzen Hosen mit Hosenträgern. Er ist jung, vielleicht jünger als ich und unerbittlich und witzig und vom ungebändigten Temperament eines jungen Büffels. Unser "Meister" wirkt dagegen sehr geordnet, obwohl er es vielleicht nur von außen ist. In ihm tobt ein Sturm darüber, ob dieses Experiment gelingen wird. Sascha begrüßt unseren Chor und ein junger Bass mit Bart übersetzt, überraschend schnell und in bestimmtem Ton ins Deutsche. Vor mir im Sopran sitzt eine Brünette mit hoch geklemmtem Haar und neugierigem Blick. Ihre Augen wandern durch die Reihen. Weiter links eine blonde Dame, schon älter, aber mit jugendlich verwirbeltem Haar, die sich als Frau Müller vorstellt. 
Der Maestro bitte um Ruhe. Er hält den Zeigefinger an die Lippen und zischt laut. Alle schweigen. Wir üben das Vaterunser, Oce Nas von Kedrov. Dieses Stück, dass mir schon in den Proben zu Hause Gänsehaut machte. Sascha schließt die Augen, gibt ein Zeichen. Wir setzen ein, die "Ohs" schwellen an, immer mehr, immer runder, so wie er es uns vormacht. Der Raum scheint schier zu bersten unter unserer Stimmgewalt. Mein Kopf vibriert von all dem Wohlklang, bis in die Haarwurzeln. Mein Herz will überschwappen vor Glück, Traurigkeit und Schönheit zugleich. Ich habe Mühe, das Wasser unten zu halten. Das zu spüren bin ich hergekommen, diese Fülle an Leben. Und es ist dieses Wissen in all den Tönen darüber, was geschehen ist, in all der Zeit vor uns.





für Wilfried 

Montag, 24. Oktober 2011

Eugenie und Cecilia

Ein Duft hüllt mich ein wie eine warme Woge. Ein bisschen wie aus einer anderen Zeit. Ein bisschen mondän. Ein Duft, der eine Geschichte zu erzählen scheint von den starken Frauen aus einem Familienclan. Starke Frauen, die ihren Mann stehen mussten, zwischen den Kriegen - und die doch schön waren und verführerisch. Etwas von Salon ahne ich darin, vom Rascheln kostbarer Stoffe, von Geheimnis, von einer Liebe, über die niemand wissen durfte. So wie Jasmin heimlich duftet in einer warmen Nacht, verboten und stark.


Die Erfinderin des Duftes ist nicht von hier. Sie erzählte mir, sie sei in Bukarest geboren und habe im Atelier ihrer Großmutter Eugenie Puppenkleider entworfen. Ich stelle mir diese Stadt vor. Eine Straße mit palastartigen großen Häusern, Jugendstilornamente, ein Frauenkopf mit üppiger Haarpracht über einem Eckladen, einem kleinen Atelier. Es ist später Nachmittag zwischen fünf und sechs. Der Himmel wird langsam dunkelblau. Ein sonniger, kalter Tag geht. Der Laden ist hell erleuchtet. Die Inhaberin Eugenie steht an einer Schneiderpuppe und macht die letzten Stiche an einem Kleid aus purpurnem Taft. Das Kleid ist nur für einen einzigen Abend gemacht worden. Sie weiß das. Die Auftraggeberin weiß das.


Danach würde Eugenie es in Zahlung nehmen und irgendeiner anderen verkaufen. Sie hat das Kleid für ihre Freundin genäht, ihre Freundin, die gerade in Bukarest zu Besuch ist, eine Woche lang, bevor sie in Wien wieder die Gemahlin des Commercialrats sein wird. Eugenie seufzt. Warum muss immer alles so kompliziert sein? Ihr eigener Mann, den sie geliebt hat, kam nicht aus dem großen Krieg zurück. Der ungeliebte Mann von Cecilia konnte dagegen von einem Büro aus Krieg führen und ihm ist nichts geschehen. Dennoch lernte Cecilia während dieser Zeit einen Arzt aus Bukarest kennen. Frühverwitwet. Vielleicht würde Eugenie ihn von der Freundin in Zahlung nehmen können wie das Kleid, nach dieser Nacht.


Da kommt sie in hastigen Schritten. Klingkling, die Ladentür. Oh, ich bin so aufgeregt! Hast du es fertig? Ja, hier, du kannst es anprobieren. Eugenie geht zur Puppe und löst die Häkchen. Es ist wunderschön, sagt Cecilia und wird rot. Ob er das verdient hat? Ob ich das verdient habe?
Manchmal muss so etwas sein, sagt Eugenie - für eine Erinnerung in der langen Strecke des Lebens. Die beiden jungen Frauen gehen nach hinten in die Ankleide. Cecilia entkleidetet sich bis auf die Unterwäsche. Eugenie hilft ihr in den purpurroten Stoff. Der fühlt sich kühl an, kühl und noch etwas steif. Aber, mit den Bewegungen und der Berührung kommt Wärme hinein und Weichheit. Eugenie zieht und zupft. Cecilia ächzt. Ist das nicht zu eng? Setz dich mal hier auf den Hocker, sagt Eugenie und schüttelt den Kopf. Das muss so sitzen. Allerdings bräuchtest du schon Hilfe - beim Ausziehen, sagt sie ganz leise, lächelt und schlägt die Augen nieder.


Die letzten Korrekturen mache ich draußen im Licht. Die beiden jungen Frauen bewegen sich wieder nach vorn in den Laden. Mein Gott, das bin ich gar nicht, sagt Cecilia, die sich nun erstmals im Spiegel sieht. Na, um so besser, antwortet Eugenie. Dann musst du keine Gewissensbisse haben. Die beiden Freundinnen lachen leise. Ich danke dir, sagt Cecilia und umarmt Eugenie. Warte, hier muss ich den Faden noch vernähen. Cecilia spürt die Festigkeit des Metalls in der Taille und atmet ein. Eugenie beißt den Faden durch. So, sagt sie.


Cecilia dreht sich ein paar mal um die eigene Achse und umarmt Eugenie nochmals. Wie kann einem  ein einziger kleiner Moment soviel Glück bedeuten? sagt sie und schüttelt den Kopf. Und dann: Ich muss los. In einer halben Stunde beginnt die Oper. Sie greift nach ihrem Cape, das sie über einen Sessel gelegt hatte. Warte kurz, sagt Eugenie und läuft nochmal nach hinten Richtung Ankleide. Mit einem kleinen Flacon in der Hand kehrt sie zurück. Was ist das?, fragt Cecilia. Mein erstes Parfum, sagt Eugenie. Ich habe es mit einem Parfumeur aus Paris entworfen. Sie öffnet den Flacon und betupft Cecilia sanft hinter den Ohren. Nimm es, sagt sie und gibt Cecilia den Flacon in die Hand. Cecilia kann gar nichts mehr sagen vor Rührung und lässt den Flacon still in ihre Handtasche gleiten. Die Freundinnen umarmen einander nochmals und Eugenie bringt Cecilia zur Tür. Klinkling.


Wie in einer duftenden Woge läuft Cecilia durch Bukarest - und ich durch Offenbach nach einem Besuch bei Astrid Merger, die gerade ihr erstes Parfüm entworfen hat. Ich konnte nicht widerstehen. Cecilia steht jetzt bei mir auf der Kommode im Flur und wartet auf einen schönen, kalten Winter voll geheimnisvoller Momente.

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Schreibmobil




Beim Schreiben war es mir schon früh ein besonderes Anliegen, mobil zu sein. Genauer gesagt, in jedem Zimmer an verschiedenen Plätzen schreiben zu können. Im Wohnzimmer, wo ich Kerzen habe im Winter und wo ich auf dem Sofa sitzend, umgeben von irgendeiner Lieblingsmusik, die Gedanken schweifen lassen kann. Oder im Sommer mit einem Stuhl und einem kleinen Tischchen im Grünen zwischen den Vögeln. Oder nachts, wenn im Haus alle schlafen, völlig lautlos in der Küche zu sitzen und Lichtwörter in die Tastatur klicken.

Diese Mobilität, die mir eine gewisse Freiheit bezüglich Raum und Zeit geben würde, betrachtete ich vor rund zehn Jahren sogar als „Voraussetzung“ zum Schreiben. Damals war man noch weit davon entfernt, den Computer überall mit hinnehmen zu können. 

Die elektrische Schreibmaschine bot in jener Hinsicht das Höchste der Gefühle. Vorausgesetzt, man hatte keinen Dinosaurier als Gerät, so wie ich. Die alte Triumph-Adler war ein Modell aus der Pionierzeit der elektrischen Schreibmaschine. Sie kam mir vor, wie eine alte behäbige Dame, die sich über die Jahre fettgefressen hatte und die deshalb nicht mehr richtig von der Stelle kam. Sie war, im Gegensatz zu den vielen modernen Geräten heute, buchstäblich nicht tragbar, das heißt, ich konnte sie nicht allein heben.
Eine weitere Schwäche der alten Dame war, dass ihre Typen ein wenig steif waren, wenn sie länger unter ihrer grauen Kunstlederkappe geruht hatte. Die kleinen Metallhebel mit den Buchstaben darauf waren dann schwergängig und schlugen am Anfang einer Schreibstunde nur schwach auf das schwarze Farbband. Die Buchstaben waren hell, besonders auf der rechten Seite, wo das o und das p sitzen.


Es war im Winter 1990. Ich hatte das Gerät bereits aufgegeben und irgendwo abgestellt, wo es nicht im Weg war, als ich zu dem Schluss kam, dass mir zum Schreiben vor allem wichtige äußerliche Voraussetzungen fehlten.

Es ist November. Während ich schreibe, ist es draußen völlig dunkel geworden. Es regnet und ist sehr windig. Der richtige Abend, um in der warmen Wohnung zu sitzen und zu schreiben. Ich habe das alte Fossil wieder angeworfen, weil ich glaube, dass es mich inspiriert. Vorher gibt es allerdings, wie man sieht, ein paar der üblichen Schwierigkeiten. Ich muss erst eine Verlängerungsschnur holen, um das Monstrum anzuschließen. Dann kommt wieder das Platzproblem. Auf dem Boden kann ich schlecht schreiben, außerdem ist die Maschine so schwer, dass ich sie nur mit großer Mühe von einem Zimmer ins andere schleppen kann. Sie steht jetzt auf dem alten Nähmaschinentisch, der hat sogar Rollen und so kann ich sie hinschieben, wo ich gerade schreiben will. Das ist toll. Ich habe sie jetzt ins Wohnzimmer gekarrt und sitze auf einem Sessel mit dem Fenster im Rücken. So ist es sehr angenehm.

Als endlich das vertraute Brummen ertönt und ich loslegen will, hängt das Farbband und kein Buchstabe wird gedruckt. Jetzt habe ich die kleine Unwilligkeit behoben und muss noch die schwergängigen Buchstaben einschreiben. Während ich schreibe, wackelt alles ein wenig hin und her, besonders bei der Zeilenschaltung. Meine Zigarette droht vom Aschenbecher zu fallen und in meinem Weinglas schwappt es bedrohlich.

In der Autobiographie von Arthur Miller gibt es ein Kapitel, in dem er über die Schwierigkeiten beim Schreiben berichtet und in dem er beschreibt, wie er sich erst eine eigene kleine Holzhütte bauen musste, um irgendwo schreiben zu können. Ich fand es sehr tröstlich, dass es einem großen Schriftsteller wie ihm große Schwierigkeiten bereitet hat, die geeigneten Örtlichkeiten und Gelegenheiten zum Schreiben zu finden.

Es kann tatsächlich sehr hemmen, wenn das Drumherum nicht stimmt. Ich kann in der Straßenbahn schreiben und im Café. Zu Hause fällt es mir eher schwer, weil es da immer hundert andere Sachen gibt, die ich vorher zu tun habe. Aber ich will jetzt einfach, dass das Schreiben einen festen Platz in meinem Leben bekommt. Beim Lesen kommen mir oft gute Ideen und ich finde es schade, sie einfach wieder zu vergessen, wenn ich das Buch zurück ins Regal stelle. Ich möchte so gern über Dinge schreiben, die viele Menschen betreffen, die normal und alltäglich und dennoch die Dinge sind, die wir am wenigsten verstehen, am wenigsten akzeptieren. Fragen, die immer mehr werden, solange das Leben dauert. Zum Beispiel, die eigene Vergänglichkeit begreifen. Wie Scott Fitzgerald sagt: „Of course all life is a process of breaking down, ...“ Auch, wenn ich es weniger hart formulieren möchte, führt das Leben unweigerlich zum Tode und damit zur Unbedeutsamkeit des Selbst, des Ich.

Wie soll die Geschichte also jetzt beginnen? Mit einem Dialog oder sollte ich zuerst die Hauptperson beschreiben? Oder soll ich etwa mit den Nebenpersonen beginnen? Schwer zu lösende Probleme. Dennoch sollten sie mich nicht daran hindern, einen Anfang zu machen. Einen Anfang, der schon lange überfällig ist. Meine Unzufriedenheit wächst mit jedem Tag, an dem ich wieder nichts Eigenes geschrieben habe und nur lese und lese.

Das alte Schreibmobil inspirierte mich vor Jahren, es muss wohl 1989 gewesen sein, zu einem 50 bis 60-seitigen Romananfang, den ich wenig später verworfen habe, weil mir die Gedanken darin, die Entwicklung der Protagonistin inzwischen antiquiert vorkam oder gar spießig. Mein Leben entwickelte sich anders. Auch bemerkte ich, dass es mir nach zwei bis drei Kurzgeschichten und Erzählungen noch sehr schwer fiel, eine längere Handlung zu entwickeln. Jetzt erst, nach vielen Jahren arbeite ich an einem umfangreichen Text, der inzwischen 130 Seiten umfasst. Im Grunde setzt er sich aus Einzelerzählungen wie Mosaiksteinchen zu einem Großen zusammen. Diese Art der Entstehung längerer Texte ist vielleicht sogar sehr häufig, aber dass es funktioniert, ist mir erst viel später aufgegangen. Die Arbeit an kleineren Texten, die man dann zusammenfügt, verschafft dem Schreibenden eine ähnlich große innere Mobilität der Gedanken wie die Schreibmaschine auf dem Rollentisch äußerliche Beweglichkeit gewährt.

Heute muss ich keine großen Vorkehrungen mehr treffen und auch die Typen nicht mehr einschreiben. Ich kann einfach mein funkelnagelneues Laptop aufklappen und loslegen. Es gibt also wirklich keine Ausrede mehr – außer, das Hirn macht nicht mit, was meist der schwerwiegendste Hinderungsgrund ist. Und da war ich natürlich mit meinem Fossil im Vorteil: Gleichzeitig mit der Mechanik konnte ich mein Hirn aufwärmen.