Freitag, 30. November 2012

In der Ideenbäckerei

Nun saß ich also in diesem schönen Raum, blauweiß gefliest an den Wänden, Pfeffer und Salz am Boden. In diesem Raum, in dem schon viel gebacken wurde. Sechzig Jahre lang Brote, danach Ton - und nun also Ideen. Ich darf Sie begrüßen in meiner "Ideebäckerei" hatte der Hausherr gesagt - der Hausherr von Peters' Bakery in Offenbach. 

Und damit war ich preisgegeben hinter meiner grünen Lampe. Preisgegeben zweiundsiebzig Ohren und zweiundsiebzig Augen - die ich zum Glück nicht sah. Ich sah nur die grauen Konturen von Köpfen und Schultern und weiter hinten die skurrile Lampe über dem langen Tisch. Eine Lampe aus Treibholz und Glühbirnen, ein Designerstück des Hausherren, das etwas von einem Hirschgeweih hat, ein sehr expressionistisches Hirschgeweih - vielleicht passt sie deshalb so gut in den Raum. 

Und vor mir mein Blatt. Das erste Blatt eines Kapitels, das ich vorlesen wollte, mit meinen Worten darauf, die nun nicht mehr mir gehörten, die ich nun freiließ Stück für Stück. Sie fielen in den Raum, zuerst leicht unrhythmisch, etwa wie eine Maschine, die erst ins Laufen kommen muss, dann immer gleichmäßiger wie das Ticken einer alten Uhr, die ja auch mit ihrem Ticken den Menschen immer etwas von ihrer Zeit nimmt. Ich lauschte meinen eigenen Sätzen, wie sie da in die Stille trafen, in die Stille, die nur einmal vom Brummen eines Handys durchbrochen wurde und einmal von einem schüchternen Hüsteln. Doch ich machte immer weiter, fuhr fort, meine Worte aneinander zu reihen, denn deutlich vernahm ich in der Stille die gespannte Erwartung des nächsten Wortes. 

Ich wusste ja, wie das enden würde, wusste ja, dass ich diese Erwartungen enttäuschen würde - nicht mit Worten, sondern mit dem, was meine Protagonisten taten und mit dem, was ihnen infolgedessen zustieß. Ich hätte immer so weiterlesen können - aber darüber wäre es dann wohl Weihnachten geworden. 

Gestern aber las ich nur dieses eine Kapitel und ich kann nur sagen, die Ideebäckerei hat Nachwirkungen. Sie äußern sich in Worten und Sätzen, die mir in den Sinn kommen, in einer Art Schreibzwang, der mich heute erfasst. Dabei muss ich an Henry Miller denken, der des öfteren sein Schreiberlebnis schilderte und schrieb, dass er den Wendekreis des Krebses wie unter einem Diktat geschrieben habe. Ich bin mal gespannt, wo dieses "Diktat" mich hinführt.

Wenn mir mal die Worte fehlen, weiß ich jedenfalls wohin. Ich werde um Asyl bitten, in der Offenbacher Ideenbäckerei.


 



Mittwoch, 14. November 2012

Ein Nachmittag in der Zeitmaschine

In Offenbach gibt es einen Ort, der so völlig von der Welt vergessen scheint, dass man es kaum fassen kann, wenn man ihn zum ersten Mal betritt. Es ist ein Ort der Ruhe und der Einkehr, ein Ort, der einen die Welt da draußen für eine Stunde oder mehr einmal völlig vergessen lässt. Vielleicht eignet er sich zur Entspannung viel besser als sogenannte künstlich errichtete und viel bevölkerte "Wellness-Oasen". Es handelt sich um den Alten Friedhof, der umrahmt von alten Sandsteinmauern sein friedliches Dasein an einer der verkehrsreichsten Ecken von Offenbach bewahrt. 

Der gestrige schöne Herbsttag zwang mich geradezu nach draußen. Zumal der Alte Friedhof auch in einem Kapitel meines Stadtführers "Offenbach zu Fuß"vorkommt. Am gestrigen Nachmittag wanderte ich also die Mathildenstraße soweit hinunter, wie nie zuvor - und stieß tatsächlich direkt auf das Tor zu diesem verwunschenen Ort. Natürlich wusste ich schon immer, wo der Alte Friedhof ist. Allerdings fährt man in der Regel mit dem Auto an der hohen roten Mauer vorbei und kann kaum ahnen, was sich dahinter verbirgt. Und Friedhof, das war für mich seit Kindertagen der Rumpenheimer Friedhof, wo sich auch die Gräber meiner Verwandtschaft befinden. 

Der Alte Friedhof ist anders. Er hat die Aura eines sagenumwobenen Ortes. Wohl auch, weil dort viele berühmte Offenbacher, hugenottischer und jüdischer Herkunft ihre letzten Ruhestätten gefunden haben - und weil dort seit Jahren keine neuen Gräber mehr errichtet werden. Dafür gibt es den Neuen Friedhof an der Mühlheimer Straße. 

Als ich gestern Nachmittag durch das schmiedeeiserne Tor trat, wurde ich sogleich von dieser besonderen Aura erfasst. Das herbstlich goldene, aber verhaltene Licht, die knorrigen Äste der alten Platanen, die steinernen Zeugen einer längst vergangenen Zeit und diese unglaubliche Ruhe empfingen mich direkt hinter dem Eingang. Ein grünbemoostes Engelskind, ein von Wind und Wetter gezeichneter Christuskopf - und dann all die Namen. Namen, die einen augenblicklich verstummen lassen. Namen, die jedem, der hier lebt, bestens bekannt sind und noch mehr, die man leider nicht kennt - darunter viele jüdische. Beim Anblick dieser Namen wurde mir plötzlich bewusst, dass all diese Menschen tatsächlich gelebt haben. Sie liefen wie ich in dieser Stadt herum, die zugegeben, damals noch ein bisschen anders aussah, die aber trotz vieler Schicksalsschläge hier und da noch alte Gesichtszüge bewahrt hat. Dieses Bewusstsein versetzte mich in eine ganz besondere Stimmung. Wie ich so vor viele der Grabmähler hintrat, um sie genau zu betrachten, den Faltenwurf der Engelsgewänder, ihre nachdenklichen Gesichter, ihre sprechenden Hände, die eingemeißelten Jahreszahlen und hebräischen Schriftzeichen, tauchte ich ein in andere Zeiten. 




 

Die Friedhofsgärtner auf ihren brummenden kleinen Geländefahrzeugen kamen mir seltsam fremd vor  und auch die Schornsteine der ehemaligen Allessa da draußen oder die Schilder von Reifen Seher waren nicht zugehörig zu dieser Welt. Obwohl draußen der Verkehr tobte, herrschte hinter den Mauern eine Art innere Ruhe, die allein vom Ort ausging und vielleicht von den Seelen der Menschen, die hier liegen. 



Wenn ich wieder einmal Urlaub von der Welt da draußen brauche und schnell ein paar andere Gedanken, dann werde ich wiederkommen und hier zwischen den alten Steinen ein wenig herumstreunen. Und wenn ich irgendetwas zur Erhaltung dieses Ortes tun kann, will ich es gerne tun.

Freitag, 9. November 2012

Nicht ganz koscher - aber lecker

Heute früh hatte ich noch so eine Ahnung davon auf der Zunge. Eine Ahnung des gestrigen Abends im Offenbacher Stadtteilbüro Nordend. Dort tafelt zweimal im Jahr die "Interkulturelle Kocharena" und ich darf wieder in der Jury bei diesem kulinarisch-kulturellen Austausch mitschmecken. Diesmal stehen zunächst ganz unsinnlich "Speiseregeln" als Motto für die drei Termine im November auf dem Plan: koscher, hellal und vegetarisch. Gestern also ein Menü aus der Jüdischen Küche.

Die Neugier war wie immer groß beim Betreten des kleinen, gemütlichen Raums in der Bernardstraße, das einen dann mit einer langen weißgedeckten Tafel empfängt. Diese war gestern schon gut besetzt mit erwartungsfrohen Besuchern, deutscher, marokkanischer und jüdischer Herkunft. Weiter hinten in der Küche ging es schon lebhaft zu. Eine Dame köchelte am Herd und erzeugte wunderbarste Gerüche, die andere schnitt Rote Beete und entkernte einen Granatapfel. Beide kochen in Frankfurt für die jüdische Gemeinde. 





Ich setzte mich zu meinen Mit-Jurorinnen Marina Caktas und Andrea L'Abbate an die lange Tafel und gespannt studierten wir die Menükarte. Der Raum füllte sich mit fröhlichem Gemurmel, die Theke mit immer mehr Köstlichkeiten - und dann ging es endlich los. Mit einer vegetarischen "Leberpastete" und Auberginensalat. Und eines war gleich klar, wer diese "Leberpastete" auf dem Tisch hat, kann hessisch Lebberworscht getrost mal entbehren. Die feine Pastete aus Walnussmus und hartgekochten Eiern war köstlich, ebenso der Auberginensalat - gar nicht fettig und schön für's Auge. Schnell waren die Platten leergeputzt und man wartete gespannt auf den Hauptgang.

 Wer bei Hackfleischbällchen nur an ordinäre Frikadellen denkt, dem sei gesagt, es geht auch anders. Diese sogenannten "Grünen Fleischbällchen" waren aus reinem Rindfleisch und hatten es in sich: Petersilie, Kreuzkümmel, Koriander, Anis und wer weiß, was noch. Mit Tahini-Sauce schmeckten sie unglaublich gut. Dazu gab es einen tollen Feldsalat mit Rote-Beete-Würfelchen und Granatapfel sowie einen orientalischen Reis mit Rosinen und Karottenspänen. 



Die Küchenchefin des Abends, Anat Kozlow, erklärte uns, dass die Jüdische Küche oder besser gesagt, die Neue Israelische Küche Speisen aus aller Welt auf der Karte habe und sehr bunt und abwechslungsreich sei. So seien die "Leberpastete" und der Auberginensalat Gerichte aus Osteuropa, während die Fleischbällchen arabisch und der Reis iranisch seien. Als "koscher" allerdings könne man unser Menü nicht bezeichnen, weil es nämlich in "unkoscheren" Räumen entstanden sei und wir auch von "unkoscherem" Geschirr aßen. Für uns, die wir damit nicht aufgewachsen sind, klingt das ganz schön kompliziert - aber jedenfalls war dieser kleine Ausflug in die Jüdische Küche superlecker. 

Und interessant ist auch, dass eigentlich jede Kultur gerne kocht und isst und bestimmte Speisen zu bestimmten Anlässen serviert. Das bringt dann Leute zusammen. So wie unsere zusammengewürfelte Gruppe gestern Abend - und das ist schön. Dafür lohnt es sich auch mal, einen ganzen Tag in der Küche zu stehen. 

Ach ja und dann gab's noch ein frei erzähltes Jüdisches Märchen aus Marokko von Patrick und Nachtisch: Einen Salat aus Pampelmusen, Orangen, Pomelos Feigen und Nüssen. Was soll ich noch schreiben? Ich kann den nächsten Termin am 22. November kaum erwarten. 

Donnerstag, 8. November 2012

Ideen wie Pilze

Die großen Platanenblätter rascheln unter meinen Füßen, der Wind zaust mein Haar, die Hunde tragen Mäntel. Während ich heute so vor mich hin raschelte, ging mir eine Frage durch den Kopf: Woher kommen eigentlich Ideen? Beispielsweise für eine Website? Für Bildwelten und Wortwelten? Mit dieser Frage beschäftige ich mich eigentlich schon sehr lange, bemerkte ich so beim Nachdenken. Denn es gibt immer wieder Kunden, die sich standhaft weigern, Informationen und Bilder, die ihr Unternehmen und ihre Dienstleistungen oder Produkte beschreiben, weiterzugeben.

Man macht einen Entwurf und Kunde sagt: langweilig! Ich will's anders! Wenn man dann nachfragt, was genau er langweilig findet und wie genau er es anders will, wird's interessant. Dann nämlich beginnt ein Prozess. Dann muss sich der Befragte Gedanken über sich selbst und über sein Unternehmen zu machen. Und dann fließen plötzlich ganz viele Informationen. 

Der zweite Entwurf überrascht dann oft - weil er so "anders" ist - und Kunde fragt: Warum denn nicht gleich so? Das frage ich mich dann auch. Denn sicher ist: Ideen sprießen nicht wie Pilze aus dem Boden. Sie gedeihen vielmehr auf fruchtbaren Boden - wenn da aber nur öde Steppe ist, naja...dann wächst auch nichts. Das zeigt einmal wieder: Reden ist Gold und schweigen ist blöd. 


Mittwoch, 7. November 2012

Novembermelancholie

Ich zögere mit dem Hinausgehen. An einem Morgen wie diesem, düster und feucht, ist das nicht leicht. November eben. Am Montag Abend habe ich mich mit einem Offenbacher Taxifahrer aus Marokko unterhalten und ein wenig über das Wetter gejammert. Da sagte er, zu meinem Erstaunen, dass er so ein Wetter, wie wir es gerade haben, ganz gern mag. Er bemerkte meine Überraschung und beeilte sich mit der Erklärung: "Doch, ich finde, das hat was. Besonders gegen Abend, wenn man irgendwo in einem Restaurant sitzt oder in einer Bar und rausschaut in den Regen - das ist so eine ganz besondere Stimmung." Da ist was dran, dachte ich und musste ihm zustimmen. Besonders die Stadt hat bei Dämmerlicht und Regen so eine melancholische Aura, die irgendwie zu Saxofonmusik passt und der man sich kaum entziehen kann. Das muss ich bald einmal ausprobieren, mit dem Laptop in irgendeiner Bar.

Bei diesen Gedanken bin ich schon auf meinem Weg in den Park. Der Himmel hat nicht viel zu bieten, also richte ich meine Blicke auf die leuchtend bunten Blätter am Boden. Ein schönes Gelb wie Sonnenstrahlen ist darunter. Ich beschließe heute mit meiner Runde im Park zu bleiben und wende mich am schönen Klohäuschen nach rechts zum ehemaligen Rosenheim Museum. Zu meinem Erstaunen brennt dort Licht und die Rollläden sind oben. Mit ihrem leicht verwitterten Charme, dem armamputierten Zentaur und dem Licht im Erker passt der Anblick so recht zu meiner Novembermelancholie. Bin gespannt, wer dort einzieht.



Dienstag, 6. November 2012

Im Lauf der Zeit

Eine Blaupause zwischen den Wolkenbändern macht den Kopf frei. Ich nehme sie dankbar an und begebe mich mit den Stöcken ins Freie. Nach Monaten, so kommt es mir vor. Obwohl das nicht stimmt. Ich war viel draußen in der letzten Zeit. Bin Dribdebach und Hibdebach von Termin zu Termin gehechtet, soweit die Füße tragen. Und keine Zeit zur Besinnung. Das muss anders werden, denke ich. Besonders kurz vor Weihnachten - und es ist kurz vor Weihnachten. Einmal am Tag die Zeit anhalten -  wenigstens für eine halbe Stunde verlorengehen für die Welt da draußen und bei sich sein. Das nehme ich mir heute vor und das wünsche ich auch meinen Mitlesern. Denn mir kommt's vor, als ob im Moment alle um mich herum rennen, als wollten sie das Jahr einholen. Aber, das geht sowieso nicht. Wir sind alle im Lauf der Zeit. 




Die Blätter fallen unaufhaltsam. In der Platanenallee am Schlangenbrunnen steht schon der große Container, der alle einsammeln wird. Dann ist es Winter und man fragt sich, wo das Jahr wieder hingekommen ist. Aber spätestens an Neujahr geht es wieder aufwärts. Ein neues Jahr, neue Hoffnungen und irgendwann Frühling. Bis dahin trink ich noch ein Tässchen Tee.

Dienstag, 25. September 2012

Verschwiegener Treffpunkt

In der letzten Woche führte mich ein Termin auf den Mühlberg. Ja, genau, das ist diese Gegend zwischen Offenbach und Frankfurt, ehemals recht vornehm, bis die Flugzeuge darüber kreisten. 

Vielleicht sollte man mal eine Menschenkette von Offenbach über Oberrad und den Mühlberg bis nach Sachsenhausen, dann rüber über den Eisernen Steg bis auf den Römer stellen. Genug Leute müssten's ja sein. Wäre einen Versuch wert.

Letzte Woche jedenfalls hatte ich Glück: Das Wetter war blau und kein Flieger zu sehen. Ich wanderte von der Straßenbahnhaltestelle mit dem amüsanten Namen "Lettigkautweg" aufwärts in Richtung dieses erstaunlich hohen alten Schulgebäudes zur Steinhausenstraße. Schon früh fiel mir ein neues weißes Schild auf, das den Weg zum sogenannten "Willemer Häuschen" wies. Von diesem Häuschen hatte ich schon gehört, es aber noch nie gesehen. Ich beschloss auf meinem Rückweg einen kleinen Abstecher zu machen.

Eine Stunde später folgte ich dem Schild den Hühnerweg entlang, an dem sehr schöne idyllische Häuser stehen und weiter hinten alter Baumbestand. Inzwischen hieß dieser Abschnitt Goehte-Wanderweg.  Hier oben hatte er sich des öfteren herumgetrieben und war vielleicht auch hinüber nach Offenbach gelaufen, zu seiner kleinen Lili. Aber nicht mehr als das "Willemer Häuschen" ins Spiel kam. Da war Lili längst abgemeldet. Mit diesem kleinen Häuschen, verband der Dichter aber auch so eine pikante Geschichte. Hatem und Suleika...ich hatte da noch sowas im Kopf, was mich immer weiter den Hühnerweg hinauf lockte. 


Ich wollte schon fast schon aufgeben, weil kein Hinweis mehr kam, als ich Schieferziegel durch die Bäume schimmern sah, in der Art, wie sie auch alte Mansardendächer in Offenbach zieren. Und tatsächlich, da war es: Ein entzückendes turmartiges kleines Bauwerk in einem kleinen Garten am Waldrand. 











In diesem verschwiegenen Schlupfwinkel hatte Goethe Marianne von Willemer getroffen - und sie hatten bestimmt nicht geschwiegen dort drinnen. Über was mochten die beiden wohl gesprochen haben? Da wäre ich gerne ein Mäuschen gewesen. 

Jedenfalls heute darf man das Häuschen an Sonntagen besichtigen - und ich beschließe, das einmal zu tun, mit dem Auszügen aus dem "Westöstlichen Diwan" im Gepäck.  




 




Mittwoch, 19. September 2012

Guckst Du

Gestern nach einem erfolgsversprechenden Lunchmeeting habe ich es getan. Es war eigentlich ganz einfach, nachdem ich mich einen Monat geziert hatte. Aber, das lag auch an der sehr netten Beratung, die zur Abwechslung einmal mir zuteil geworden ist.

Also, es war nicht mehr wegzuschieben, genauso wenig, wie der kommende Herbst mit seinen fallenden Blättern wegzuschieben ist: Ich brauchte eine neue Brille. Denn schließlich, wie soll ich sonst schreiben. Sicher, als Kinder haben wir mal Blindschreiben probiert mit verbundenen Augen. Das war sehr lustig. Aber im Berufsleben gibt es wenig Raum für solche Scherze. 

Beschleunigt hat meine Entscheidung ein neuer Optiker auf der Offenbacher Kaiserstraße - Optik 29. Da sah ich vor etwa einem Monat ein schönes Modell im Fenster, dass dann auf meiner Nase aber weniger schön aussah. Mein Gesicht ist für jene neuen großen Gestelle einfach nicht gemacht. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, dass ich einst froh war, die Achtziger und deren Moden hinter mir zu lassen. Trotzdem wollte ich diesmal ein "richtiges" Gestell mit einem markanten Rahmen. Wir fanden schließlich ein paar Modelle. Wir, das heißt, die Optikerin, ich und ein süßer braunschwarzer Hund der Rasse Deutsch Kurzhaar.

In den nächsten Wochen überkamen mich dann Zweifel, ob des markanten Rahmens in dunkelbraun. Also nochmal die kleine Prozedur. Das war gestern. Diesmal half auch noch der Herr Optiker mit. Außerdem bekam ich kurzerhand ein paar Tageslinsen, damit ich mich selbst bewundern konnte. Soviel sei schon verraten: Es ist ein markanter Rahmen geblieben, aber nicht in dunkelbraun. Nun bin ich ganz ungeduldig. 



Die nicht und die auch nicht. 

Aber die:




Montag, 17. September 2012

Welcome to the modern world

Das Licht ist toll an diesem Herbstmorgen. Es lockt mich bis ganz nach vorn zum Kaiserleikreisel,auf dieses kleine Rondell. Die frühe Sonne schimmert auf der petrolgrünen Fassade des ehemaligen KWU-Hochhauses, das so eine eigenwillige Schönheit erhält. Ein knallroter Cola-Laster vervollkommnet dieses Bild. An dieser Stelle spielt die Stadt Metropolis, denke ich. Zumal das KWU-Haus wohl leersteht, wie ich im heimischen Medium gelesen habe. Kaum vorstellbar, dass hinter den ganzen Fenstern niemand sitzt. Wie es wohl innen aussieht? Das Gebäude könnte eine tolle Kulisse für einen Katastrophenfilm abgeben oder für einen abgedrehten Science Fiction wie Mars Attacks. Schade, dass niemand sowas macht, finde ich und wandere wieder rüber in die Platanenallee. 




Auf dem Rückweg prangt mir warnend das Schild eines neuen Fitnessstudios entgegen: City Fitness, Berliner Straße 312. Es lockt mit Eröffnungsangeboten. Vielleicht sollte ich das mal testen. Im Winter, der ja bevorsteht, bestimmt keine schlechte Idee. Wie ich auf der Internetseite lese, wird auch Dynamic Yoga angeboten. Dynamic schreckt mich ein bisschen ab - aber es gibt auch eine Sauna...und, wenn die Gartensaison zu Ende geht, fällt schließlich das Dynamic (Unkraut-)Jäting weg. Da braucht die Großstadtpflanze einen Ausgleich.


Ein hübsches Schlusswort für diese Gedanken finde ich an der Mauer unter dem Bahndamm: "I am in love with the modern world now". Was hat beim Autor wohl diesen Sinneswandel bewirkt?

Donnerstag, 13. September 2012

Ich suche mir diese Bilder nicht aus

Die Trübnis weicht. Fortgeschoben von einer bleichen Sonne, aber immerhin. Ich also raus, obwohl noch müde. Die kühle Luft ist frisch auf der Haut und den Augäpfeln. Im Park ist heute viel Krach. Der runde Brunnen wird gesäubert und nasse Blätter aus dem Teichzufluss geholt. Da muss ich schnell vorbei und mir einen ruhigeren Seitenpfad suchen. Ich lenke meine Schritte in Richtung Betonpavillon. Der schöne schlichte Bau ist schon seit einem halben Jahr eingerüstet, was das Bild stört. Jedes Mal. 




Ich will eigentlich keine Störung. Ich will noch ein wenig meinen Gedanken nachhängen, die um eine  Buchpräsentation am gestrigen Abend in Frankfurt schweifen. "Zwölfender" von Britta Schröder. Ein schmales Buch, dessen Titel mir vor kurzem schon aufgefallen war durch den ungewöhnlichen Titel selbst und die Gestaltung des Covers, einer Nahaufnahme von Waldmoos. Die überraschende Struktur davon, wie kleine Tannenbäumchen, hat mich immer fasziniert und so machte mich das Bild auch neugierig auf das Buch. 

Es geht um eine junge Frau, der ihr eigenes Leben plötzlich fremd wird und die sich im Laufe des Buches schließlich von allem befreit. Sie reist dafür in die trockenste Wüste der Welt. Auf ihrem Weg dorthin beobachtet sie sich selbst, ihren Körper, ihre Gedanken, ihre Träume ganz genau und beschreibt das minutiös und dabei trotzdem fesselnd. 

Ich lauschte Worten wie "Tankstellen-Blumen" und "Lichtung" und Beschreibungen, die sich zu überraschenden Bildern zusammenfügten und fühlte mich auf seltsame Weise angezogen. Es war sehr schön anzusehen, was die Worte und Bilder während der Lesung mit den Gesichtern der Menschen machten. Nach der Lesung blätterte ich in das Buch hinein und mir gefiel sofort, wie es beginnt, mit einer ganz körperhaften Beschreibung, die einen sofort Seite an Seite mit der Protagonistin in das Buch hineingehen lässt. Ein schöner Satz heute Morgen: "Ich suche mir diese Bilder nicht aus. Sie sind in meinem Kopf". Leider musste ich das Buch dann aus der Hand legen. 

Mittwoch, 12. September 2012

Zwölfter September Zehnuhrelf

Also Herbst. Nicht mehr einfach rausspringen im leichten Hemdchen. Die Kleidung muss bedacht werden. Auch das sizilianische Regencape reicht nicht aus heute. Die Luft aber ist schön, duftet wunderbar würzig, nach Wald und Erde schon am Eingang des Parks. Gleich links glitzern mir hellgrüne Stachelbällchen, wehrhaft umhüllte Maronen entgegen. Alles glänzt und blitzt nach dem Regen. Die verschiedenen Grüntöne der Blätter nehmen mich gefangen. Und da, ein leiser Schreck lässt mich meine Schritte anhalten, entdecke ich den Graureiher, direkt vor mir am Teich. Auch er zuckt und blickt in meine Richtung. Der scheue Gast hat mich bemerkt und wird sofort auffliegen, wenn ich näher komme. Also mache ich so heimlich und leise, wie es geht, ein Bild von ihm. 



 


Der Graureiher erinnert mich, ähnlich wie die Kastanien an eine längst vergessene, ja verwunschene Welt. Jane Eyre und Mr. Rochester könnten hier gleich des Weges kommen mit einem großen irischen Wolfshund. Ähnlich geheimnisvoll wirkt heute morgen der ganze Park - die Natur scheint zu flüstern. Ich nehme den Weg zum  runden Springbrunnen nach rechts, Richtung Tempelchen. Diese Ecke ist sehr romantisch und passt zu meinen inneren Bildern. Auf dem Rückweg entdecke ich einen verzauberten Baum und beschließe dem Garten noch einen Besuch abzustatten. Ein paar frische Kräuter könnten einen guten Tee geben.

Als ich dort bin, wird mir klar, dass die Tomaten, Paprika und Kürbisse wohl so schnell keine Sonne mehr sehen werden und ich pflücke alles, was einigermaßen reif aussieht ab. Eine schöne kleine Ernte, die mich über die Woche bringen wird.


Dienstag, 11. September 2012

Elfter September Siebzehnuhrvierunddreißig

Heute Morgen war der Himmel schwer. Ich ließ mich aber trotzdem nicht abhalten, meine kleine Runde zu drehen. Übrigens andere auch nicht, wie ich feststellen konnte. Auf einer Bank vor dem großen Brunnen saß der Mann, der dort jeden Tag sitzt. Er trägt eine Vollglatze und ähnelt Yul Brynner, falls der noch ein Begriff ist. Er nimmt auf dieser Bank seinen morgendlichen Kaffee ein - und das, obwohl er in der Nähe zu wohnen scheint. Vielleicht hat er keinen Spaß daran, seinen Kaffee allein zu Hause zu trinken und genießt ihn lieber in der Gesellschaft von Enten und Moorhühnern - und mir. Wir haben jedenfalls vor kurzem angefangen, uns zu grüßen.

Auf der Rückrunde, gegenüber von Yul Brynner, der immer noch Kaffee trank, schien jemand wieder eigens für mich etwas Bemerkenswertes platziert zu haben: Eine bunte Decke lag ohne  zugehörige Eigentümer ausgebreitet auf der Wiese am Teich. Hatten nächtliche Nutzer diese Decke einfach vergessen, weil sie mit anderen Dingen beschäftigt waren? Wurden sie überrascht und mussten schnell fliehen? Auch diese Decke könnte eine Geschichte erzählen, so wie jedes Ding im Grunde, wenn es die Worte dafür fände, dachte ich so vor mich hin, als ich meine Schritte unter dem Tunnel durch nach rechts Richtung Garten lenkte.


Dort hatten zwei Männer gerade eine städtische Informationstafel aufgestellt, die meine Neugier weckte. Was sollte denn hier für eine Sehenswürdigkeit sein, fragte mich mich beim Nähertreten und musste doch lächeln, als ich ein Goethezitat entdeckte, das auf die Waldroute hinwies und so trefflich zu meinen morgendlichen Rundgängen passte: "Ich ging im Walde so vor mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn." Man findet immer etwas, besonders, wenn man nichts sucht, antwortete ich Johann Wolfgang im Geiste.

Freitag, 7. September 2012

Siebter September Neunuhrfünfundvierzig

Die Morgenluft ist schon so kühl, dass man eine Jacke braucht. Und ich habe noch gar keine Lust auf Winter und Weihnachten. Ja, aber das kommt. Schneller als einem lieb ist. 

Zum ersten Mal werden meine schnellen Schritte heute am Ende des Parks gestoppt. An dem kleinen, niedlichen Häuschen an der Stadtgrenze gegenüber dem Trafohäuschen. Ich stelle mir immer vor, darin ein winziges Kaffeehaus einzurichten, mit selbst gebackenem Kuchen und Sitzplätzen im Freien. Und schon oft habe ich mich gefragt, zu was es wohl dient und wer es nutzt. Denn es gibt eine Eisentür mit Griff, der von außen nicht zu öffnen ist.


Heute also denke ich, ich traue meinen Augen nicht, als ein Mann eiligen Schrittes durch diese Tür hinein in das Häuschen schlüpft. Während er drin ist, mache ich schnell ein Foto des Häuschens, in der Hoffnung, dass er während des Auslösens wieder herauskommt. Aber, es dauert eine Weile, bis er wieder erscheint. 

Ich halte mich abseits, um zu sehen, wo her hineilt. Auffällig ist sein dunkelblauer Pullover mit einem zarten türkisfarbenen Streifen - exakt in der Farbe der Straßenbahnen. Tatsächlich. Er wendet seine Schritte zur Endhaltestelle an der Stadtgrenze und löst einen anderen Mann im dunkelblauen Pullover ab. 

Sollte das niedliche Häuschen, das ein Überbleibsel aus der Epoche des Jugenstils sein mag, tatsächlich dem profanen Zweck eines Klohäuschens für Straßenbahnschaffner dienen? Die würden sicher auch gern immer mal einen guten Kaffee trinken und ein Stück meines selbst gebackenen Kuchens essen, denke ich und laufe weiter Richtung Allee, die im Herbst so schön ist, dass es mich ganz andächtig macht. 




Ich beobachte bunte Kinder, die durch den Baumkronentunnel der Platanen auf mich zukommen und eine Frau mit einem Beagle. Es ist Astrid Merger, die Offenbacher Modedesignerin. Ich freue mich, sie zu sehen und wir laufen gemeinsam zurück. An der Betonbrücke führt uns Beagle-Hündin Chira ein kleines Kunststück vor, springt auf den Podest und tänzelt über die Brücke. Sehr süß. 



Donnerstag, 6. September 2012

Sechster September Zehnuhrneunundvierzig

Diese Herbstmorgenstunden sind köstlich. So frisch und verheißungsvoll lichtdurchflutet. Sie versuchen einen zu täuschen darüber, dass es doch schon spät im Sommer ist, sehr spät. Um diese Jahreszeit quillt der Garten über und ich beschließe auf dem Rückweg, die Abbiegung in die Helene-Mayer-Straße zu nehmen. Es gilt Zucchini und Auberginen vor Übergröße zu bewahren und klein und zart in meinem Körbchen nach Hause zu retten. 



Am Bahndamm gegenüber des Seniorenheims steht ein alter Lederkoffer, ein sehr alter. Auf jeden Fall Vorkriegsware. Für so was hat man als Einwohnerin einer Lederstadt einen Blick. Ein schönes Stück, das ich sofort mitnehmen würde, aber leider sind alle Nähte zerschlissen, so dass es bald in seine Einzelteile zu zerfallen droht. Ich inspiziere den Koffer genauer. Vorne zwischen den Schlössern sind die Initialen J. P. zu erkennen. Handelt es sich dabei wohl um einen Mann oder eine Frau? Jean oder Johanna - das waren so Namen von damals. Mein Opa hieß Jean. 

Vielleicht hat der Koffer einem der Insassen aus dem gegenüberliegenden Seniorenheim gehört, geht es mir durch den Sinn. Das ganze Leben bemüht man sich um die Mehrung seiner Habseligkeiten und irgendwann ist man soweit, dass man nur so viele Dinge mitnehmen darf, wie in einem Koffer Platz haben. 

Ob noch etwas drinnen steckt? Ich halte den Atem an und betätige die Schlösser. Wie, wenn ich etwa einen scheußlichen Fund machte? Klapp rechts, klapp links und einen Spalt breit öffnen. Nichts, rein gar nichts, noch nicht mal ein Fleck. Schade, denke ich und verschließe die Schlösser wieder sorgfältig für den Nächsten.

Im Garten weicht meine Enttäuschung schnell dem Licht, das auf Blüten und Blättern spielt.



Montag, 20. August 2012

Zwanzigster August Achtuhracht

Heute war ich die Erste in der Gartenanlage. Alles war noch ruhig, sogar die Hummeln schliefen noch, als ich den Amselweg zu unserer Gartenlaube entlang lief. Die Sonne lockt derzeit betäubende Düfte aus den Rosen, Astern und Gladiolen - und unbeschreibliche Farben. An solchen Tagen ersetze ich den Frühsport mit den Stöcken durch Schwengeln mit der Pumpe und anschließenden Workout mit der Kanne. Das frühe Gießen hat den schönen Nebeneffekt, dass es die Umgebung angenehm frisch und kühl macht. Dieses Gefühl hält nur ein Stündchen an. Genau die richtige Zeit für ein kleines Frühstück im Garten, bevor ich mich mit dem Computer in die Laube zurückziehe und die Vorzüge des mobilen Büros genieße.

Zum Frühstück erntete ich eine gelbe Paprika, eine hammermäßige Zucchini und einen hellgelben Apfel. Damit kommt man doch schon mal ein Stück weit. Außerdem gab es Aprikosenmarmelade mit Lavendel, die mir eine Freundin geschenkt hat und ein Stück Bergkäse vom Wochenmarkt. Dazu las ich einen schönen Artikel über eine hundertdreißig Jahre alte Apfelweinkneipe im Offenbacher Nordend, der ich bald einmal wieder einen Besuch abstatten werde. Es ist erstaunlich wie anders man auf diese Weise in den Tag hineinkommt. Ich hoffe, dass mich dieses Gefühl durch den heißen Tag hinweg trägt.



Freitag, 17. August 2012

Bahnhofsviertelnacht oder voll das Leben

Ich weiß nicht so genau, was an der Bahnhofsviertelnacht anziehender wirkt: Die Öffnung von Tür und Tor, auch seitens halbweltlicher Vergnügungsstätten, in die man sonst nicht reinkommt oder die Menschen an sich. Für mich war es gestern eindeutig letzteres. 




Ich kam am späten Nachmittag mit der Linie 11 in der Münchener Straße an und blieb erstmal am Schaufenster von Schuh-Krolla hängen. Da standen ein Paar hübsche Sandalen. Der Unterhaltungswert beim Schuhkauf mit einem Graupapagei, der die Straßenbahn nachmacht und dem liebenswerten Ehepaar, das den Schuhladen betreibt, war den Ausflug schon wert - und macht deutlich, was Online-Shops nicht bieten können - pures Leben. Und davon gibt es im Bahnhofsviertel eine ganze Menge. Mit meinen Sandalen im Rucksack wanderte ich erstmal die Weserstraße runter, Richtung Kaiserstraße zum Eis-Fontanella. Dort genehmigte ich mir unter schattenspendenden Schirmen einen großen Eiscafé. Die Sonne glänzte auf den Erkerchen der letzten großen Stadthäuser einer längst vergangenen Epoche und den Glasfassaden der Banken, die auch nach Jahren immer noch wie Eindringlinge wirken. Und allein dieser Kontrast sagt viel über die heutige Struktur des Viertels, aus dem die Einwohner einst weichen mussten, weil ihre Häuser zu Spekulationsobjekten wurden. Hier zu sitzen bedeutet auch immer, sich einem leisen Schmerz auszusetzen, einem Schmerz, der in der Freßgass oder am Römer ausbleibt. 



Dieses Gefühl hat auch mit den Menschen zu tun, die hier tatsächlich wohnen und die immer genau das spiegeln, was mit dem Viertel wirklich los ist. In so einer Nacht wie der gestrigen kommen viele Ortsfremde, um einmal mit einem Auge in die Wirklichkeit zu spähen, erlaubterweise durchs Guckloch zu gucken. Dafür warteten in der Moselstraße, wo ich wenig später umherstreifte, lange Schlangen im Hof der Karmeliterschule. Sie waren dann, mit grünen Halsbändchen ausgestattet, die ganze Nacht hindurch gut zu erkennen, so dass man ihnen ausweichen konnte. Ich ließ mich für ein Glas in der Nachbarschaft bei Walon & Rosetti nieder, um das Treiben zu beobachten. Unter den Menschen waren, so schien mir, viele Angestellte aus dem nahen Bankenviertel, die aber doch nie gewisse Grenzen und Straßen überschritten. Viele von ihnen in Kostümchen und Anzug. 

Es wurde langsam richtig voll und ich beschloss etwas essen zu gehen, solange es noch freie Plätze gab. Mein Ziel lag in der Elbestraße bei Pak Choi, einem Lokal mit original nordchinesischer Küche. Die Qualität der Restaurants auf engem Raum machen einen Gutteil des Bahnhofsviertelflairs aus und ziehen auch mich immer wieder hierher. Auch, weil die Restaurants  ein hervorragender Ort sind, um Menschen aller Nationen zu studieren. 


Gestern ungewöhnlich viele Deutsche. Vielleicht ist Neugier  eine typische Eigenschaft, aber auch Sensationslust. Jedenfalls saß ich nicht lang allein. Zwei Damen, die in der Nähe arbeiteten und irgendwo im Landkreis lebten - eine von ihnen wirkte harmlos genug, um aus dem Kinzigtal zu stammen - setzten sich an den Nebentisch. Die Kinzigtalerin begann mich neugierig nach Sehenswürdigkeiten auszufragen. Beide hatten bei einer Führung mitgemacht und bemängelten, dass man alles eigentlich nur von außen zu sehen bekäme. Allerdings hatten sie auch den "Druckraum" in der Niddastraße besucht oder jedenfalls davor gestanden. Die Kinzigtalerin erzählte, dass ein junger Mann sich wegen der Besucher beschwert und gesagt hätte, er käme sich wie im Zoo vor. 

Ich frage mich, was die Leute dazu treibt, sich solche Stätten anzusehen. Ist es das Leid der Anderen oder ist es einfach nur das Leben, das sie wenigstens einmal von der Nähe aus sehen möchten? Vielleicht sollten sie einmal ihr gemütliches Kinzigtal verlassen und sich hier einmieten. Über dem Pak Choi ist eine Wohnung frei. Vielleicht reicht es auch schon, ab und zu in der Mittagspause mal nicht in die bankeigene Kantine zu gehen. Dem Viertel kann weitere Bevölkerung nur nützen.





Mittwoch, 15. August 2012

Maschinen, Meermädchen, Markt und Mäuse

Gestern kam alles anders: Morgens wachte ich auf, weil mein iPhone nicht klingelte. Es zeigte stoisch ein schwarzes Display und blieb stumm. Selbst nachdem ich alle Tasten mehrmals langanhaltend oder kurz, einzeln und zusammen gedrückt hatte. Es half alles nichts. Und das an einem Tag, an dem fast ausschließlich Außentermine in Frankfurt anstanden. Was also tun, wenn die Technik versagt?

In so einem Fall können altmodische Nachbarschaften helfen, dachte ich mir, machte mich  ausgehfertig und lief hinüber in den Starkenburgring 79. Vom Abend vorher wusste ich, dass Marina auf den Markt wollte, um Zutaten für ein neues Chutney der Marke Genusswolke einzukaufen. Ganz in der Nähe gibt es auch einen Laden für die Techno-Variante des Apfels, wo ich mit meinem ledierten iPhone Hilfe suchen wollte. 

Wenig später liefen wir die Darmstädter runter Richtung Markt. Noch war es bewölkt und nicht klar, dass es ein heißer Tag werden würde. Auf der Bismarckstraße zeigte ich Marina eines meiner Lieblingshäuser - die Nummer 123, direkt neben dem alten jüdischen Friedhof. Das große Eckhaus von Architekt Max Schroeder aus dem Jahr 1904 leuchtet gerade frisch sandgestrahlt in hellem Ocker. Es war einst das Wohn- und Geschäftshaus des Lederwarenfabrikanten Friedrich Leißler und enthält wunderschöne Fassadendetails wie ein kleines geflügeltes Meermädchen. 





Wir ließen es links liegen und liefen die Mittelseestraße runter, in der sich einer der ältesten Offenbacher Bioläden, namens Holunder, befindet. An der Bleichstraße bogen wir rechts ab und näherten uns dem Markt von hinten. Dort herrschte verhaltenes Treiben, wie meist an den Dienstagen, so dass wir uns die schönen Waren in Ruhe ansehen konnten - und das ist im Moment eine  Freude: Mirabellen, Reineclauden, Pfirsiche, Heidelbeeren, Himbeeren, Johannisbeeren - und natürlich Tomaten in allen Farben und Formen. Marina kaufte rote Beete und frischen Meerrettich, ich Heidelbeeren, Tomaten und ein Makrönchen beim Bäcker. 



Mit dieser Beute zogen wir in ein Café vor dem Aliceplatz, tranken Espresso und naschten aus unseren Tüten. Hier beobachteten wir eine vietnamesische Familie, die ihren Sprössling mit sehr schmaler Schultüte zur Einschulung begleitete. Der Papa schulterte noch das Ränzlein. So überbrückten wir die Zeit zu den Ladenöffnungszeiten und wanderten dann in Richtung Geleitsstraße, in der sich ein Apple-Lizenz-Store befindet. Dort konnte meinem iPhone, dass noch aus einer frühen Generation stammt, tatsächlich geholfen werden. 

Frohgemut traten wir den Rückweg an, der uns durch die Hospitalstraße führte. Gegenüber dem Pianohaus Guckel entdeckten wir mitten auf dem Trottoir eine Maus, die keine Anstalten machte zu verschwinden. Bei näherem Hinsehen fragten wir uns, ob es sich bei dem Tierchen wirklich um eine Maus handelte oder nicht vielleicht um ein kleines Rättchen. 

Jedenfalls war diese kleine Tour durch die morgendliche Stadt ein schöner Tagesbeginn, der mir genug Schwung für den Rest mitgab.