Mittwoch, 2. November 2011

Könnte ich mein Leben nochmals...

Letzte Woche fuhr ich mit der Regionalbahn über die Offenbacher Stadtgrenze und sogar über die hessische Landesgrenze hinaus, ins nahe gelegene Aschaffenburg. Ich hatte dort ein paar Gesprächstermine am Nachmittag und am Abend ein Treffen mit ehemaligen Kollegen der inzwischen auch längst ehemaligen PR-Agentur Hiller, Wüst und Partner. Ich freute mich, wieder einmal hier zu sein und wollte meine Mittagspause in einem kleinen Café verbringen, in dem ich früher auch so manche Mittagspause verbracht hatte.

Es handelt sich um das Vivere. Ein wahres Kleinod hessisch-fränkischer Kaffeehauskultur, dank einer Inhaberin, die einen Sinn hat für Handgemachtes und Hausgemachtes aus Frankreich und dem Mittelmeerraum, wo sie viele Rezepte für kleine Speisen und bunte Fruchtsirups gesammelt und weiterentwickelt hat. Aber, es gibt auch fast Vergessenes aus Deutschland: Limonaden und Liköre aus Brandenburg, die eine alte Dame aus den Früchten des eigenen Gartens mixt und braut. 
Es war ein warmer Spätsommertag Ende Oktober. Ich bestellte mir eine Hollunderblütenlimonade und stöberte in der interessanten Karte, noch nicht sicher, ob ich Auberginengemüse mit Rosmarin oder einen der köstlichen Kuchen probieren sollte. Nach kurzer Zeit öffnete sich wieder die Tür und ein großer, Schlanker kam herein. Das erste, was mir neben seiner Größe auffiel, waren seine meerfarbenen Augen und seine schönen, braunen Schuhe mit Budapester Lochmuster. Er blickte sich kurz um und nahm dann am Tisch neben mir Platz, wo er das große Fenster, aber auch die Tür im Blick hatte. 


Die Inhaberin fragte nach seinem Wunsch, aber er sagte, er würde noch auf jemanden warten. Der jemand entpuppte sich als eine blonde, gerade noch junge Frau. Sie strahlte ihm entgegen. Er erhob sich freudig und sie begrüßten sich mit zwei sehr zarten Küsschen rechts und links. Nur so hingehaucht. Sie schienen kein Paar im strengen Sinne. Jedenfalls entnahm ich das ihren Blicken, die forschend waren und gleichzeitig vorsichtig und ihren Worten, die so neben mir hin- und herflogen. 


Hier war ich schon vier oder fünf Jahre nicht mehr, sagte er. Ja, genau, erwiderte sie und ich konnte sehen, wie ihr die Röte am Hals nach oben stieg. Und sofort dachte ich bei mir: Hier fing alles an. Dieses Herzrasen. 


Sie sahen sich lange an und ich konnte fast die Gedanken sehen, die ihr durch den Kopf gingen dabei. Da musste einiges gewesen sein, zwischen den beiden. Dein Haar ist kürzer, sagte sie schließlich und fasste hinüber an seine Schläfen, ganz sacht, fast ängstlich, ihn wirklich zu berühren. Sein Haar war hellbraun und sehr fein, so wie die Flaumfedern eines kleinen, frechen Vogels. Hab ich mich verändert?, fragte er. Sie lächelte und schüttelte langsam den Kopf. Nein, sagte sie und strich dabei über seine Längsfalte auf der linken Seite. Er meinte äußerlich, sie innerlich. Unwesentlich, ergänzte sie. Als er das aufnahm, war sein Lächeln ein wenig frech, ein wenig ängstlich, ein wenig vage. Und dabei lief so ein Lied, von einer Frau mit einer irre tiefen Stimme, Marla Glen: Enough is enough. 


Die Inhaberin kam an den Tisch und fragte nach ihren Wünschen. Er bestellte Kaffee und sie sagte: Einen Tee vielleicht und überlegte wieder sichtbar. Haben sie Earl Grey? Ja, sagte die Inhaberin, aber wir haben auch Winterzauber, mit Nelken und Zimt oder...Nacheinander zählte sie an die zehn Teesorten auf. Die Blonde sah die Inhaberin an und versuchte offensichtlich, die Sorten irgendwie zu behalten. Oder doch lieber Earl Grey?, fragte die Inhaberin zusammenfassend. Ja, sagte die Blonde und lächelte ein kleines dankbares Lächeln.


Süß!, kam es plötzlich aus ihm hervor und dann sah er sie mit diesen Augen wie das Meer an. Mit Augen, die alles versprechen und nichts halten, ging es mir durch den Kopf. No more tears, sang Marla Glen.   


Sie sahen sich wieder eine Weile still an. Die Luft zwischen ihnen schien zu flimmern. Jetzt bin ich ganz glücklich, sagte er. Und sie: Jetzt in diesem Augenblick? Ja, jetzt in diesem Augenblick. Warum ist das so, fragte sie nach einem langen Blick aus großen, traurigen Augen. Es war damals auch so, sagte er. 


Längst hatte ich mein rotes Notizbuch aufgeschlagen und schrieb diese ganze Szene mit. Zur Tarnung blätterte ich immer mal wieder in der Speisekarte und legte sie halb über mein Geschriebenes.


Na, weißt du, sagte er und schlug dabei die Augen nieder. Das zehrt schon alles. Aber, ich will nicht jammern. Bei diesem Ausspruch lächelte er sie wieder voll an. Dein Haar ist dunkler, sagte er. Wie gern würde ich da jetzt reinfassen. Wie um ihm zu Hilfe zu kommen, beugte sie sich ein wenig nach vorn, so dass ihre blonden Haarsträhnen zu ihm hinwippten. Es ist Herbst, sagte sie und es klang, als ob nun einfach für immer Herbst sei. 



Zum Trost bestellte ich mir ein Stück Käsetorte mit heißen Zwetschgen.

Er erzählte von seinen Söhnen, die nun wohl erwachsen waren. Seiner sachlichen Schilderung entnahm ich, dass es nicht ihre Söhne waren. Wollte er ihr damit sagen, dass der Weg jetzt frei war, freier jedenfalls als damals?


Wo bist du jetzt überhaupt?, fragte sie. Hab' ich dir das nicht erzählt, fragt er und sie schüttelte den Kopf. Wir haben doch zwei Jahre gar nichts voneinander gehört. Er atmete tief ein und nannte einen Firmennamen, erzählte, wie es mit seiner eigenen Firma zu Ende gegangen war. Nach einem weiteren Dutzend Wimpernschlägen fragte er mit leiser, fast ängstlicher Stimme: Was sagt eigentlich die Uhr?, und ich dachte, dass auch er hier nur eine etwas ungewöhnliche Mittagspause verbrachte. Bestimmt nichts Gutes, erwiderte sie. 


Es war sehr schön, dass wir das gemacht haben, sagte er und erhob sich langsam, fast behutsam, so als sei die Stimmung zwischen ihnen ein zartes Gebilde, das er nicht zerstören wollte. Was machst du jetzt?, fragte er. Gehst du noch ein bisschen durch die Stadt? Ja, sagte sie, ich schaue mal nach Schuhen und gehe bei meinem Optiker vorbei. Er nickte und winkte der Inhaberin, die mit ihrem Portemonnaie herankam. 


Die Blonde war inzwischen auch aufgestanden und die beiden verabschiedeten sich - auch wieder mit zwei Küsschen rechts und links. Aber diesmal geschah das langsam und zögernd wie in Zeitlupe. Es schien, als würden beide währenddessen darüber nachdenken, ob etwa ein anderer Kuss angebrachter sei und beim Zurückgehen streiften sie einander unmerklich die Lippen. 


Er ging durch die Glastür und gleichzeitig kam ein junges Mädchen mit einem Golden Retriever herein. Sie band ihn los und plauderte mit der Inhaberin. Offenbar brachte sie das Tier nach einem Spaziergang zurück. 


Der Hund kam zu der Blonden an den Tisch, scharwenzelte um sie herum und stupste ihr mit seiner feuchten Nase ans Bein. Babou, lass, sagte die Inhaberin und kam herbei. Gell, sie sind am Nachdenken, meinte sie zu der Blonden. Möchten sie ein paar Gummibärenherzen? Die Frage hatte etwas Tröstendes und etwas Komisches zugleich. Die Blonde lächelte ebenfalls, schüttelte den Kopf und erhob sich. Vermutlich waren Gummibärenherzen jetzt das das Letzte, was sie wollte. 


Als sie gegangen war, sah ich mir nochmals die handgeschriebene Speisekarte an. Auf der letzten Seite stand ein kleines Gedicht. Es begann mit den Worten: Könnte ich mein Leben nochmals leben...