Eine Nacht, wie wir sie nur ein paarmal im Jahr haben. Von drinnen schwingt Latino-Musik. Die Luft ist lau mit einer ganz zarten Brise und jenseits der Berliner träum' ich mir das Meer. Stimmen flattern, ein Flugzeug dröhnt, Autos brausen. Ich stelle mir bonbonfarbene Cadillacs vor, wie in Havanna. So ähnlich könnte es dort an irgendeiner unbedeutenden Ecke aussehen - alte und neue Gebäude einträchtig nebeneinander, ein bisschen postmodern ein bisschen abgewetzt, irgendwie schön.
Neben mir eine alte Hausmauer in korallenrot und sonnengelb, in ein paar Metern Entfernung ein leuchtendes Lidl-Schild und die grelle Werbung vom Cinemaxx. Gegenüber ein Haus aus den Sechzigern, azurblau und ein restauriertes Fabrikgebäude, hellgrau. Wie heißt noch dieser berühmte Boulevard in Havanna?
Die Bedienung zündet die roten Windlichter an. Sie trägt korallenrote Sandalen, hat zimtfarbene Haut und goldblondiertes Haar. Sie könnte Kubanerin sein, mit ihrer weiblich runden Figur, die sie mit Würde trägt.
Die hohe, kehlige Stimme von Ibrahim Ferrer dringt an mein Ohr und singt etwas von Curazon. In der Luft liegt ein Duft von gegrilltem Tintenfisch und Rasierwasser - vom Tisch gegenüber. Dort sitzen zwei Herren beim Essen. Ein Messer quietscht auf dem Teller. Der rechte der Beiden ist schlank und gutaussehend. Er ist komplett in meerblau gekleidet, trägt ein langärmeliges Hemd. Die offenen Manschetten und die Segeltuchschuhe in der gleichen Farbe verraten eine gewisse Eleganz. Der linke ist untersetzt und hat krauses schütteres Haar. In seinem weißen T-Shirt zeichnet sich ein weicher Bauch ab. Seine Kleidung wirkt plump und leicht verschwitzt. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit oder gerade deswegen unterhalten sich die beiden sehr angeregt. Der Gutaussehende berlinert oder östelt jedenfalls irgendwie, seine Rede wirkt sympatisch. Der Andere schwäbelt und wirkt etwas besserwisserisch. Vielleicht Messegäste von der Imex drüben in Frankfurt, die froh sind, um ein günstiges Hotel. Der Gutaussehende klingt bescheiden. Ich denke, er weiß gar nicht, dass er gut aussieht. Sicher wäre er erstaunt, wenn man es ihm sagen würde.
Hinter mir leuchtet eine Kunstpalme in rot. Ich mache ein Foto und wechsele ein paar Worte mit der Bedienung, lobe die Palme. Einige finden Sie kitschig, sagt sie. Ein bisschen Kitsch muss sein, sage ich. Sie lächelt und trägt ein paar Gläser weg. Eine ältere Frau auf einem Fahrrad biegt um die Ecke. Sie singt mit einer schönen Altstimme ein altes italienisches Lied. Es ist eine Nacht, in der man einen Liebhaber treffen möchte.
Am letzten Tisch zeigen sich drei junge Frauen mit dunklen Locken gegenseitig ihre SMS-Nachrichten und lachen zwischen gelben Cocktails. Vielleicht Marokkanerinnen, vielleicht Pina Colada. Manchmal habe ich schon daran gedacht wegzuziehen, weg von Chaos und Flugzeugen. Aber, was sollte ich anfangen, ohne diese verrückte Stadt, in so einer Nacht? Ich weiß es nicht.
Letzten Sonntag um diese Zeit saß ich auf der kleinen Bühne im Frankfurter Kellertheater und sprach ins Mikrophon. Ein kleiner Gewölbekeller, in den dieses siebte Kapitel aus meinem Roman, mit dem Titel "Hotel Orient", das ich vorlas, wie hineingegossen passte. Hinter mir ein rotes Plüschsofa, vor mir Kaffeehaustische und sehr aufmerksame Zuhörer.
Ich konnte meine eigenen Worte in den Raum fallen hören und sie kamen mir plötzlich ganz neu vor und anders. Die Augen, die gebannt auf mir ruhten und die Ohren, die sich in der Stille spitzten. Das alles konnte ich spüren. Die Luft war voller Spannung und vibrierte fast ein bisschen, so kam es mir vor. Als die Stelle kam, wo die beiden Protagonisten in der Bar des Hotel Orient sitzen und sich gegenseitig Süßigkeiten zustecken, spielte sich direkt vor meinen Augen eine kleine Szene ab, die ich beobachten konnte und gleichzeitig trieb ich die Handlung in der Geschichte durch mein Lesen weiter voran. Das war seltsam und faszinierend zugleich. Ein bisschen so, als sähe ich mir selbst beim Lesen zu.
Ich las also diese Stelle, die einen entscheidenden Wendepunkt herbeiführt:
"Magst du Süßes? fragte Leo. Eher selten, sagte ich. Eher selten, wiederholte er. Dieser ganze Abend ist wahrscheinlich eher selten, meinst nicht? Ja, sagte ich und schob ihm einen kleinen Florentiner in den Mund. Er lachte und revanchierte sich mit einer Mozartkugel. Ich trank einen heißen Schluck bitteren Kaffees."
In jenem Augenblick rollte eine der Mozartkugeln, die ich ausgelegt hatte, von der Marmorplatte an dem kleinen Tisch, der direkt unterhalb der Bühne vor mir stand. Es war, als sei die kleine Kugel plötzlich zu Leben erwacht und wollte an der spannendsten Stelle zurück in die Handlung. Die Besucherinnen unter mir am Tisch kicherten sehr leise und fast unhörbar in meine Worte hinein. Yvonne beugte sich sachte nach unten, bekam die Kugel zu fassen, kam wieder nach oben, streifte das Silberpapier ab und schob sich die Kugel in den Mund. Weg war sie, das kleine Requisit, das irgendwie eine leise Verbindung knüpfte zwischen Fiktion und Realität.
Danach lief die Geschichte ihrem unweigerlichen Ende entgegen, das, ich gebe es zu, enttäuschend für die Zuhörer war, enttäuschend im Hinblick auf den Vorgeschmack, den die kleine mit Marzipan gefüllte Schokoladenkugel gegeben hatte.