Silke Scheuermann konnte diesen etwas anderen Sonntag morgen auch genießen und sagte, dass sie früher die Sonntage als sehr ritualisiert und belastend empfand. Ich auch. Da wurde morgens gleich nach dem Frühstück der Rinderbraten angebraten, die von mir gehassten Knödel geformt...ich ging in die Badewanne und kam erst nach dem Essen wieder raus.
Aber nun zu den Gedichten: Ich mag Gedichte und zum Glück bin ich in der Schule nicht allzu lang mit Schillers Glocke oder Goethes Erlkönig gequält worden - jedenfalls musste ich keine Gedichte auswendig lernen. Die Gedichte von Silke Scheuermann sind meist Prosagedichte und eher kleine Geschichten oder Alltagsbeobachtungen, die in einer sehr konzentrierten Form daherkommen. Sie sagte dazu, dass sich die Themen oft ihre eigene Form suchen. Besonders schön, war es, ihre Stimme zu hören, die die eigenen Worte genau richtig in Szene setzt - und ihre Augen zu sehen, die manchmal erwartungsvoll bis schelmisch über den Buchrand ins Publikum blicken.
Sie beschäftigt sich in dem grasgrünen Bändchen mit der Zeit, der Zeit, die an und Lebewesen nicht spurlos vorübergeht und schon manche Spezies hat aussterben lassen, so wie den Dodo oder den Säbelzahntiger. Aber auch sich selbst beschreibt sie als "Letzte meiner Art" - und bereits der erste Vers dieses Gedichts trifft wie ein Dolch ins Herz:
"Es tut mir nicht mehr gut.
Die Gewalt hat mich verändert.
Mein Körper ist kalt geworden wie der Zahn einer Löwin;
mein Geist geht meine Möglichkeiten durch.
Wenn du mich anfasst, werde ich mich wehren,
noch bevor du mir Lust machen kannst. (...)"
Solche Zeilen können nicht kalt lassen und das schöne an Lyrik ist, dass sie immer mal so in die Mittagspause oder in die kurze Spanne vor dem Einschlafen passt. Für die etwas längeren Zeitspannen, einen regnerischen Sonntag, lagen da auf dem Büchertisch bei B.A.M. noch andere verlockende Bändchen, zum Beispiel die "Pfaueninsel" von Thomas Hettche - schon allein durch ihren wunderschönen hellgrauen Leineneinband anschaffenswert.http://hettche.de Die Geschichte führt in eine längst vergangene (preußische) Welt der Königin "Luise" und offenbart in dem hübschen Bändchen eine Welt, die nicht von Disziplin, sondern von Inzest und Begierde geprägt ist. "Pfaueninsel" ist nun sogar im Kopf-an-Kopf-Rennen für den Deutschen Buchpreis und ich würde Thomas Hettche den Preis wünschen.
Ebenfalls weniger beschaulich als der Titel vermuten lassen könnte, kommt auch der Anfang des Romans "Isabel" von Feridun Zaimoglu daher. Da geht es temperamentvoll um das Ende einer Liebe und den Akt des Verlassens. Aber auch dieser Roman spielt in Berlin - und das scheint in diesem Jahr der Lieblingsort der deutschen Autoren. Na ja, die waren halt noch nicht in Offenbach, denke ich mit einem Augenzwinkern, denn Berlin ist natürlich eine richtige aufwühlende Metropole und Offenbach nur ein bisschen Kiez zum Anfassen - hat aber auch seine Geschichten und eine schien sich gerade gegenüber im etwas zwielichtigen "San Carlo" abzuspielen.
Ein Roman, der seit kurzem wieder aufgelegt ist (auch bei Schöffling) und der nicht nur für Wiesbaden, sondern auch für Offenbach eine besondere Bedeutung haben sollte, ist "Theodor Chindler" von Bernard Brentano. Der Autor, der vor dem Zweiten Weltkrieg für die Frankfurter Zeitung in Berlin arbeitete und mit Joseph Roth eng befreundet war, wurde in der Offenbacher Geleitsstraße 109 geboren. Die schöne Neorenaissance-Villa steht heute noch. http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/wiesbaden-liest-theodor-chindler-eine-familie-im-krieg-13105168.html
Zwei gute Gründe also, dieses Buch endlich mal zu lesen.