Die Mutter meiner Mutter war viele Male verheiratet und ich nahm ihre Männer hin, wie den Wechsel der Jahreszeiten. Den ersten kannte ich nicht. Von ihm hieß es nur, er sei im Krieg geblieben. Ihr zweiter Ehemann starb kurz nach der Hochzeit. Ich habe ihn einmal im Krankenhaus besucht. Danach sah ich den Sarg mit einem weißen Lilienbouquet auf dem Hauptfriedhof. Zwischendurch gab es immer mal einen Onkel und dann Herrn Löllmann aus Zeilsheim. Er schenkte Großmutter ein breites goldenes Armband und starb vor der Hochzeit. Dann aber kam Arno und da merkte ich gleich, dass etwas anders war, weil Oma zum ersten Mal nicht mit mir Silvester feiern wollte, sondern mit ihm. Wegen Arno zog meine Großmutter aus Frankfurt weg und ich war beleidigt - jahrelang. An ihm musste etwas dran sein, zumal ihn meine Mutter mit einem spöttischen Unterton die große Liebe nannte.
Ihre große Liebe lernte meine Großmutter während einer Zugfahrt kennen. Das fiel mir wieder ein, als ich letzte Woche mein Nacht¬schränkchen ausräumte und auf einmal das Etui in der Hand hatte und damit die ganze Geschichte, die sie mir im Krankenhaus erzählte - eine Woche, bevor sie ins Koma fiel - wieder im Kopf. An jenem Tag hatte ich sie kaum erkannt, stumm vor Schreck über ihre wachsweiße, lockere Haut und ihre Winzigkeit in dem großen Bett. Meine Großmutter war wie ich eine kleine Person, die im Stehen gar nicht viel her machte. Im Sitzen dafür umso mehr. Deshalb war sie davon überzeugt, dass die Sache mit Arno ihr nirgendwo anders hätte passieren können, als in einem Zug. Im Sitzen fiel ihr hellblondes Haar, das gutgeschnittene Gesicht mit gerader Nase und hohen Wangenknochen und ihre grauen bis blauen Augen auf, dann erschien sie schön. Mit dem linken Auge sah sie sehr schlecht, vermied es jedoch, ständig eine Brille zu tragen, sondern verwahrte die Sehhilfe in einem dunklen Echsenlederetui.
Als ich mich zur ihr auf den Bettrand gesetzt hatte, sagte sie, sie erzähle mir jetzt, wie das mit Arno gekommen sei, weil das immer irgendwie zwischen uns gestanden habe, und, weil sie wolle, dass ich noch etwas Anderes erfahre vom Leben.
Es gebe etwas, das jenseits stehe von Vernunft und Verstand und das meiner Mutter und deshalb vielleicht auch mir fremd sei. Arno sei ja nicht der Vater ihrer Kinder gewesen. Tatsächlich hatte sie ihn erst viel später kennen gelernt, als sie schon knapp über sechzig war. Meine Mutter habe früh bemerkt, dass das was Ernstes war und sie dafür verachtet. So drückte sich meine Großmutter aus und gab mir das Echsenlederetui. Ich öffnete es und darin lag keine Brille mehr, sondern ein Paar Eheringe mit ungewöhnlichem, rotgoldenem Zickzackmuster.
In beiden Ringen war das Datum, an dem sie sich kennen gelernt hatten, eingraviert. Das war am 8. Oktober 1974 auf einer Fahrt Richtung Oberstdorf im Allgäu. „Arno saß bereits in dem Abteil, wo auch mein Sitzplatz war“, begann Großmutter. „Durch die Glasscheibe sah ich einen Mann, der über eine Zeitschrift gebeugt am Fenster saß. Mir fiel sein volles, glattes Haar auf, in dem ein paar Strähnen verrieten, dass es einmal dunkelbraun gewesen sein musste. Ich zog die Tür auf und setzte zu einer Frage an: ,Pardon, Wagen Nummer sieben?’ Da blickte er mich an, erst ernst, dann mit langsam immer weiter nach oben wandernden Mundwinkeln. Ein Lächeln, eine Spur zu lang, für die reine Höflichkeit. ,Ist doch hier?’ fragte ich dann, um die Sache irgendwie in Gang zu bringen, die Hand immer noch am Griff der Tür zum Abteil. ,Ja, richtig’, kam es zögernd von ihm und von mir nur ein ,Gut’, gefolgt vom schleifenden Geräusch meines Koffer. ,Warten sie’, sagte Arno, stand auf, und ich dachte noch, der ist ja gar nicht groß, aber irgendwie drahtig, da griff er auch schon nach dem Koffer und berührte meine Hand, die auch noch an dem Griff war.“
„In diesem Moment“, sagte meine Großmutter und flüsterte jetzt, sei ihr ganz heiß geworden und diese Hitze habe dann irgendwie zwischen ihnen gewogt, während er den Arm gehoben und den Koffer mit Leichtigkeit nach oben geschwungen habe.
„Ich kann dir gar nicht sagen, was das war, denn vorher hatte ich das nie erlebt. Aber ich war mir sicher, dass er es auch bemerkte, denn er vermied es, mich anzusehen. Ich setzte mich gegenüber und war schon zu diesem Zeitpunkt enttäuscht, als er seinen Blick wieder in die Zeitung versenkte, die ich noch nicht einmal kannte. Etwas in mir hatte beschlossen, ihn nicht einfach aussteigen zu lassen. Dieses Etwas gab keine Ruhe und ließ mich schamlos denken, mein Gott, vielleicht ist’s das letzte Mal.
Ich versuchte ein paar Anstandsminuten rumzubringen, griff nach meiner Krokotasche, klappte sie geräuschvoll auf, um nachzusehen, ob meine Nase etwa glänzte und holte mein Brillenetui heraus. Auf all das reagierte er nicht. Also erhob ich mich wieder, blickte nach oben zum Koffer und sagte ,Ach, zu dumm, jetzt ist mein Buch da drin’. Dabei konnte ich sehen, dass es in seiner Zeitschrift scheinbar um Sport ging. Die aufgeschlagene Seite zeigte so eine medizinische Abbildung der Beinmuskulatur und daneben stand ,Durchschnittlicher Kalorienver¬brauch’. Diese Worte las ich mit Verwunderung und Skepsis, denn einerseits hatte ich nie viel Interesse an Sport, bringe das in Verbindung mit Schweißgeruch und engen Umkleidekabinen, andererseits interessierte mich der Mann gegenüber und ich wollte mir nicht vorstellen, dass er sich mit so etwas Gewöhnlichem wie Sport abgab.
Er war schlanker als ich und hatte kräftige Hände, an denen Adern und Knochen hervortraten. Und, ich erschrak über mich selbst, Du kannst es mir glauben, denn in diesem Moment kam mir auf einmal sein Körper in den Sinn, ganz ohne das gestreifte Hemd und sogar ohne Hosen. Seine Beine stellte ich mir vor, muskulös und mit wenig Haaren auf der noch festen Haut und das alles in meinem Alter, dachte ich damals und wirst Du denken – aber, ich kann Dir sagen, das hört nicht auf, das Verlangen bekommt keine Falten. Die letzten Worte hatte meine Großmutter in einem Zug gesprochen. Und obwohl ich sehr erstaunt war über das, was sie da sagte, unterbrach ich sie nicht, denn ich hatte schon erlebt, dass sie dann den Faden verlor und das wollte ich nicht riskieren.
„Arno war natürlich ebenfalls aufgestanden, hatte den Koffer wieder herunter genommen, und ihn behutsam auf die blassroten Armlehnen der Nachbarsitzbank gelegt. Ich bewunderte seine kraftvollen, gemessenen Bewegungen und fragte mich, ob das etwa mit dem Sport zusammenhing. ,Hier in der Seitentasche’, sagte ich, zog mein Buch hervor und hielt ihm frech den Titel hin, nur um zu provozieren, denn es war ein Buch in französischer Sprache Claudine von Colette und ich rechnete fest damit, dass ich ihn in diesem Augenblick mehr interessierte, als der Titel. Jedenfalls fand ich, dass in seiner Feststellung ,Oh, sogar französisch’ alles mitschwang, was man mit französisch sprechenden Frauen gemeinhin in Verbindung bringt. Dieses Herzeigen des Titels, war wie das Herzeigen einer verborgenen Seite in mir, einer Seite, die man einer Frau von sechzig weder zutraut, noch ansieht. ,Nur ein kleiner Roman zum Auffrischen’, versuchte ich die Sache jetzt abzufangen, aber er hatte schon kapiert und antwortete mit einem schiefen Lächeln ,Man vergisst so schnell’. Und wenn ich ehrlich sein will, muss ich zugeben, dass wir zu diesem frühen Zeitpunk der Unterhaltung schon über ganz unerhörte Dinge sprachen, nämlich, darüber, ob die eine noch will und ob der andere noch kann. Hier machte meine Großmutter eine Pause und atmete hörbar. Die Ehrlichkeit hatte sie angestrengt und mich verblüfft, ja fast erschreckt und erst mit jedem Jahr mehr Lebenserfahrung, versteh’ ich besser, wie sie die Geschichte damals gemeint hat, frage mich aber dabei, wie und wann man so was nur anfängt.
Arno habe ihr dann auf französisch ein Kompliment über ihr blaues Kleid gemacht, wie gut es zu ihren Augen passe. „Du kannst mir glauben, seine Aussprache hat mir gleich alle Härchen am Körper aufgestellt. Ich lobte ihn und er sagte, wie paradox doch das Leben sei, denn er habe das Sprechen in französischer Kriegsgefangenschaft gelernt, von einem Mann, der dann sein Freund geworden sei. Über den Freund kamen wir auf die französische Küche und darüber auf gesunde Ernährung und endlich zum Sport. Denn seit ich die Zeitung gesehen hatte, ließ mir das ja keine Ruhe mehr.
Ich wollte wissen, was ein so gebildeter Mann wie er mit Sport am Hut hatte und als Arno erzählte, dass er Marathonläufer sei und auf dem Weg zu einem Wettlauf nach Sonthofen, blieb mir die Luft weg. Auch deshalb, weil ich mich schämte für meine engstirnigen Vorstellungen, die wohl noch aus der Ehe zu meinen ersten Mann, Sohn einer Leipziger Kaufmannsfamilie, herrührten. Arno begann schon in den ersten Minuten unserer Bekanntschaft an meinem festgefügten Weltbild zu rütteln und ich kann Dir sagen, das war spannender, als all die goldenen Armbänder zuvor.
Ich muss ungläubig dreingeschaut haben, wahrscheinlich stand mir der Mund offen, denn er beeilte sich mit der Erklärung, natürlich laufe er in seiner Altersklasse, sei da aber einer der Besten, mit knapp vier Stunden. Bei der Vorstellung, vier Stunden lang zu rennen, wurde mir ganz kribbe¬lig in den Beinen. Das hielt allerdings nicht lange an, dann gewannen meine Gedanken schon wieder die Oberhand und befanden, so einer hat einen langen Atem und ein gutes Herz. Seit er ,Sonthofen’ gesagt hatte, ratterte mein Hirn sowieso und schmiedete Pläne, wie ich ein Wiedersehen arrangieren könnte. Im Kopf ging ich die Haltestellen durch, stellte fest, dass ich nichts zu überstürzen brauchte und schob vor, nun doch ein paar Seiten lesen zu wollen. Beide vertieften wir uns in die Lektüre und ich achtete darauf, dass er meine Sehschwäche bemerkte.
Um die Mittagszeit steckte ich die Brille wieder zurück in ihr Behältnis, deponierte es auf der kleinen Ablage am Fenster und verließ das Abteil, um in den Speisewagen zu gehen. Dort bestellte ich mir einen Kaffee, und gerade als draußen der schöne durchbrochene Turm des Ulmer Münsters ins Blickfeld kam, stand Arno in der Tür.
Mit einem ,Ach, hier sind sie’, legte er das Etui vor mir auf den Tisch und schob noch nach, ,Vielleicht brauchen sie die’. ,Ich wollte sie wirklich gerade holen’, log ich, schneller, als meine gute Kinderstube es verhindern konnte. ,Ich kann ihnen ja vorlesen’, erwiderte er und die Brille blieb auf dem Tisch liegen.
Er bestellte einen Salat und ich auch, obwohl ich keinen mag, aber schließlich konnte ich doch nicht mehr essen als er. Und ich dachte, das ist bestimmt wegen dem Laufen und fragte ihn, wie er das aushalte, vier Stunden am Stück. Beim geduldigen Aufspießen eines störrischen Salatblattes, erklärte er mir, das komme einfach so, ohne viel Zutun.
Zuerst kontrolliere man noch den Puls und die Zeit und fühle seine schmerzenden Fußknöchel oder die Knie. Dann aber, etwa nach einer halben Stunde, kämen Bilder aus der Erinnerung nach oben und schwebten eine Weile vor einem, bis andere sie ablösten und die Landschaft schließlich mit einem selbst verschwimme.
Und irgendwann höre man auf zu denken. Jedenfalls komme ihm das so vor, weil man nichts mehr zu steuern versuche, sondern nur noch dem eigenen Herzschlag folge, ohne einen Anfang und ohne ein Ende – genauso wie eigentlich jetzt. Das fügte er langsam hinzu und ich weiß noch, dass ich zu meinem Erstaunen Marathon¬laufen auf einmal spannend fand und schön, weil ich fühlte, dass er fühlte, was ich fühlte. Und ich liebte ihn plötzlich für diese Worte. Ich liebte ihn so sehr, dass ich mich fragte, warum ich dafür verdammte sechzig Jahre alt werden musste und bedauerte erstmals mein Alter und zwar deshalb, weil wir nicht mehr alle Zeit der Welt haben würden - und da gab es plötzlich einen Ruck, so dass wir beide mit den Köpfen beinahe zusammengestoßen wären, und der Zug hielt auf offener Strecke an.
Im Augenblick der plötzlichen Nähe, weiteten sich seine sowieso schon großen Augen und am liebsten wäre ich versunken in diesem Meer vor mir, braun und samtig. Arno hielt sich mit der Hand am Tisch fest und sagte ,Das hätte ins Auge gehen können’, worauf wir beide lachen mussten. Leute standen jetzt auf, zogen an den Fenstergriffen und versuchten, den Grund für unser Halten zu erspähen.
Auch wir sahen hinaus, zur Spitze des Zuges, links und rechts abgemähte Stoppelfelder unter einem herbstblauen Himmel. Das Einzige, was wir sehen konnten, war ein Tunnel, vor dem der Zug jetzt stand. ,Vielleicht hat sich da jemand von der Brücke gestürzt’, sagte eine Frau mit Hut neben mir. Arno aber sagte ganz leise ,Schade’ und ich sagte ,Schade, warum?’ und er wieder ,Schade, dass wir nicht im Tunnel halten - sonst könnte ich jetzt versuchen, sie zu küssen’.
Mein Blut pulsierte bis in die Fingerspitzen und ich dachte, dass man in unserem Alter so einen Tunnel bitter nötig hat, denn zwei Sechzig¬jährige, die sich im Zug küssen, das fände doch jeder unmöglich, mich eingeschlossen, bis vor drei Stunden.
Bevor ich etwas erwidern konnte, stand der Schaffner neben uns und sagte, auf den Gleisen sei eine tote Kuh, die würde gerade weggeschafft und die Frau mit Hut sagte: ,Da haben wir aber Glück gehabt’ und Arno sagte wieder ,Schade. So schnell schon.’ Und ich dachte mit Wonne, meine Güte, der raubt mir den letzten Rest Verstand und am liebsten hätte ich mich neben ihn gesetzt, auf seine Sitzbank, um seine Hände, Arme, Schultern zu berühren, aber das traute ich mich nicht. Ich konnte ihm nur die grauen Konturen der Alpen in der Ferne zu zeigen und das Haus meiner Schwester, bei der ich mich aufhalten würde, beschreiben“, sagte meine Großmutter und fügte noch hinzu: „Du weißt ja, wo.“ Ich nickte, denn ich konnte mir ungefähr vorstellen, wo der Zug gehalten hatte, war die Strecke oft in den großen Ferien mit ihr gefahren und wusste, dass es dort war, wo man immer zuerst die Umrisse der hohen Berge wie eine Verheißung auf den ganzen Urlaub sah.
„Dann ging es weiter und wir bezahlten. Ich ließ mein Etui auf dem Tisch liegen und bemerkte im Hinausgehen mit Genugtuung, wie er es einsteckte. Kurz vor Sonthofen nahm er seinen kleinen Koffer und eine längliche Sporttasche von der Ablage und gab mir die Hand ,Vielleicht sehen wir uns mal wieder’, sagte er noch. Aber das ,Vielleicht’ war nicht echt, das konnte ich an seinen Augen sehen, in denen ein kleiner Triumph blitzte, denn er hatte ja das Etui. - Den Rest kennst Du ja“, sagte meine Großmutter abschließend. Und ich nickte, hatte aber plötzlich das Gefühl, gar nichts zu kennen davon und nichts gewusst zu haben von ihr, die ganzen Jahre lang. Mit einem Blick zum Fenster versuchte ich, meine glänzenden Augen zu verbergen und die Tränen am Rausfließen zu hindern und meine Großmutter sagte nur leise: „Brauchst nix sagen.“ Das klang irgendwie tröstend, doch im Moment konnte ich das Etui mit den Ringen darin nur leise zuklappen und später wegräumen aus meinen Augen, alles Andere hätte mir weh getan.
Letzte Woche habe ich die Ringe übergestreift, über den linken Zeigefinger und das Echsenlederetui steckt in meiner Handtasche. Ich habe meinen Lieblingskuli hineingelegt, nicht meine Brille, die ich ständig tragen muss. Und schon jetzt ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich auf einen günstigen Moment warte, es irgendwo auszulegen.