Und da wandere ich wieder. Im Buchrainweg geht es los, die Darmstädter runter Richtung Bahnhof. Spätestens in der Marienstraße verlasse ich das Idyll der westlichen Stadt und nähere mich dem Bahndamm, der die Stadt teilt. Eine graue Mauer führt daran entlang, durchbrochen von feuchtfleckigen Tunneln ins Zentrum. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Glitzern silbrig, grün und rot. Da hat jemand versucht, etwas Schönheit zu verbreiten. Ich wechsle die Straßenseite, um das genauer zu sehen. Bilder aus Fliesen à la Gaudí. Wirklich liebevoll gemacht. Besonders die kleinen blauen Eulen mit den gelben Kaffeetassenaugen. Leider muss ich Hundehaufen ausweichen, Pappkartons und Flaschen. Was die Leute so liegenlassen an Orten, die nicht eben schön sind.
Es ist nicht leicht, diese Stadt zu lieben. Es ist ein bisschen so, wie mit einer kleinen Schwester, die mitten in der Pubertät steckt und nichts an ihr will recht zusammen¬passen. Die Nase zu klein, der Mund zu groß, die Beine zu lang. Und trotzdem weiß man, auch dieses Mädchen hat Sehnsüchte – auch dieses Mädchen will vor allem schön sein.
Ich durchquere die Unter¬führung und wende mich Richtung Bahnhof, vorbei an diesem längst vergessenen kleinen Biergarten. Im Zaun fehlen Latten und obendrauf gab es mal eine Verzierung aus Holz, von der noch ein einziges Teil zeugt. Hinter dem Biergarten befindet sich ein schöner, hoher Raum. Er wird wieder genutzt, manchmal jedenfalls – als Ausstellungsraum der Hochschule für Gestaltung.
Früher war dort die Bahnhofsgaststätte. Dort habe ich Russische Eier gegessen, mit Mayonnaise und deutschem Kaviar - salzige schwarze Kügelchen, die lustig knackten, wenn man darauf biss. Ansonsten waren diese Essen immer ein bisschen traurig, weil wir dann meine Großeltern zum Zug brachten. Russische Eier – das hieß Abschied.
Der Bahnhof selbst sieht heute etwas verlebt aus. Man merkt ihm sein Alter an und die Nichtbeachtung, seit der ICE vorbeirauscht. Dabei fällt der Bau mit seiner treppenartigen Fassade sofort ins Auge. Art Déco Reliefs um die Eingangstüren und in der Halle schöne grüne Fliesen, unterbrochen nur von weißen Ladenfronten. Läden, die nun leer stehen. Ich weiß, dass oben auf dem einen Bahnsteig ein kleiner schöner Brunnen mit einem Fabelmotiv steht. Der Rabe und der Fuchs. Der Rabe hat ein Stück Käse im Schnabel und der Fuchs will es haben. Er bittet den Raben, ihm doch etwas vorzusingen, mit seiner schönen Stimme. Man ahnt, was passiert. Mein Opa musste mir die Geschichte hundertmal erzählen - ich liebte es, wenn er den singenden Raben nachmachte - bis der Zug kam.
Dann die Kaiserstraße runter. Ehemals prachtvolle, große Häuser, in denen sich früher Läden oder Restaurants befanden. Eiscafé Dolomiti. Bestes Bananeneis der Stadt, heute ein „Raucherlokal“. Aber, in den Hinterhöfen tut sich was. Agenturen sind hier eingezogen, ein Kunstverein und ein Modeatelier. Menschen, die auch versuchen, diese Stadt zu lieben.
Rechts in die Geleitsstraße hinein. An der Ecke war früher das San Remo, ein etwas zwielichtiges italienisches Café. Gut, dass es weg ist. Aber gegenüber gab es auch eine nette Studentenkneipe, das Harlekin, in einem sehr niedlichen alten Häuschen, weiß gestrichene Klinker und olivgrüne Jugendstildamen, die den Erker auf ihrem Kopf tragen. Das Harlekin ist weg – stattdessen weist ein großes knallblaues Schild auf einen Balkangrill hin. Die Jugendstildamen geraten daneben in Vergessenheit.
Ein Stückchen weiter kommt eine türkische Konditorei mit den schrillsten Tortenmotiven, die ich je gesehen habe. Heute entzückt mich die Barbiepuppentorte. Barbie ruht in einem grünweißen Bett aus Marzipanmargeritten. Spätestens dieser Anblick versöhnt mich mit meiner Stadt – und ich bin dankbar für dieses Bunte neben dem Alltäglichen, dieses Andere neben dem Normalen. Wenn ich hier an einem sonnigen Tag runterkomme, kann ich mir einbilden, ich ginge gerade in Palermo spazieren oder in Istanbul. Es riecht sogar so: Ein bisschen nach Döner, ein bisschen nach Zuckerwatte, ein bisschen nach Müll.
Dann überquere ich die Waldstraße, kreuze Koffer Roth und Rosenapotheke und höre schon das Leben. Der Wilhelmsplatz mit seinem Markt. Hier treffen alle auf alle, Türken auf Griechen, Italiener auf Vietnamesen, Hessen auf Franken und Offenbacher auf Frankfurter.
Das war früher nicht so. Als ich die nahegelegene Wilhelmschule besuchte, liebte ich auch schon die Markttage. Mit meinen Freundinnen kaufte ich eine Dampfnudel beim Bäcker und einen giftgrünen Apfel beim Obststand. Es gab nämlich einen stillschweigenden Wettbewerb darum, wer den sauersten Apfel essen konnte. Und dann war da noch die Attraktion des Fischwagens, wo lebendige Aale erschlagen wurden, was wir gleichzeitig fasziniert und angewidert beobachteten.
Aber alles in allem war es viel weniger bunt. Ich malte damals in der Schule ein Bild von diesem Markt – es ist eine Tuschezeichnung in Schwarzweiß.