Mittwoch, 14. November 2012

Ein Nachmittag in der Zeitmaschine

In Offenbach gibt es einen Ort, der so völlig von der Welt vergessen scheint, dass man es kaum fassen kann, wenn man ihn zum ersten Mal betritt. Es ist ein Ort der Ruhe und der Einkehr, ein Ort, der einen die Welt da draußen für eine Stunde oder mehr einmal völlig vergessen lässt. Vielleicht eignet er sich zur Entspannung viel besser als sogenannte künstlich errichtete und viel bevölkerte "Wellness-Oasen". Es handelt sich um den Alten Friedhof, der umrahmt von alten Sandsteinmauern sein friedliches Dasein an einer der verkehrsreichsten Ecken von Offenbach bewahrt. 

Der gestrige schöne Herbsttag zwang mich geradezu nach draußen. Zumal der Alte Friedhof auch in einem Kapitel meines Stadtführers "Offenbach zu Fuß"vorkommt. Am gestrigen Nachmittag wanderte ich also die Mathildenstraße soweit hinunter, wie nie zuvor - und stieß tatsächlich direkt auf das Tor zu diesem verwunschenen Ort. Natürlich wusste ich schon immer, wo der Alte Friedhof ist. Allerdings fährt man in der Regel mit dem Auto an der hohen roten Mauer vorbei und kann kaum ahnen, was sich dahinter verbirgt. Und Friedhof, das war für mich seit Kindertagen der Rumpenheimer Friedhof, wo sich auch die Gräber meiner Verwandtschaft befinden. 

Der Alte Friedhof ist anders. Er hat die Aura eines sagenumwobenen Ortes. Wohl auch, weil dort viele berühmte Offenbacher, hugenottischer und jüdischer Herkunft ihre letzten Ruhestätten gefunden haben - und weil dort seit Jahren keine neuen Gräber mehr errichtet werden. Dafür gibt es den Neuen Friedhof an der Mühlheimer Straße. 

Als ich gestern Nachmittag durch das schmiedeeiserne Tor trat, wurde ich sogleich von dieser besonderen Aura erfasst. Das herbstlich goldene, aber verhaltene Licht, die knorrigen Äste der alten Platanen, die steinernen Zeugen einer längst vergangenen Zeit und diese unglaubliche Ruhe empfingen mich direkt hinter dem Eingang. Ein grünbemoostes Engelskind, ein von Wind und Wetter gezeichneter Christuskopf - und dann all die Namen. Namen, die einen augenblicklich verstummen lassen. Namen, die jedem, der hier lebt, bestens bekannt sind und noch mehr, die man leider nicht kennt - darunter viele jüdische. Beim Anblick dieser Namen wurde mir plötzlich bewusst, dass all diese Menschen tatsächlich gelebt haben. Sie liefen wie ich in dieser Stadt herum, die zugegeben, damals noch ein bisschen anders aussah, die aber trotz vieler Schicksalsschläge hier und da noch alte Gesichtszüge bewahrt hat. Dieses Bewusstsein versetzte mich in eine ganz besondere Stimmung. Wie ich so vor viele der Grabmähler hintrat, um sie genau zu betrachten, den Faltenwurf der Engelsgewänder, ihre nachdenklichen Gesichter, ihre sprechenden Hände, die eingemeißelten Jahreszahlen und hebräischen Schriftzeichen, tauchte ich ein in andere Zeiten. 




 

Die Friedhofsgärtner auf ihren brummenden kleinen Geländefahrzeugen kamen mir seltsam fremd vor  und auch die Schornsteine der ehemaligen Allessa da draußen oder die Schilder von Reifen Seher waren nicht zugehörig zu dieser Welt. Obwohl draußen der Verkehr tobte, herrschte hinter den Mauern eine Art innere Ruhe, die allein vom Ort ausging und vielleicht von den Seelen der Menschen, die hier liegen. 



Wenn ich wieder einmal Urlaub von der Welt da draußen brauche und schnell ein paar andere Gedanken, dann werde ich wiederkommen und hier zwischen den alten Steinen ein wenig herumstreunen. Und wenn ich irgendetwas zur Erhaltung dieses Ortes tun kann, will ich es gerne tun.